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Hundestaffel

Hundestaffel

Titel: Hundestaffel
Autoren: Stefan Abermann
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vor den fremden Blicken zurückgezogen hatte, gewann sie jetzt erneut an Sicherheit. Die Dellen in ihrer Oberfläche glätteten sich. Sie starrte Hannes mit demselben selbstvergessenen Blick an, mit dem man in ein 3D-Bild schaut: Mitten in einem Chaos aus Farben entstand eine Form, die nur für sie sichtbar war. Dieser Hannes existierte nur für sie
.
    Anna, ach, Anna. Zum Abschluss schenke ich dir also doch eine positive Erinnerung, auch wenn sie mich große Überwindung kostet. Nimm das Bild, es gehört dir. Ich komme darin nicht vor. Wo war ich, als du so gedankenverloren in der Klasse gestanden bist? Irgendwo außerhalb des Rahmens. Irgendwo in der Peripherie. (Ich weiß es zufälligerweise genau: Ich war in der dritten Reihe rechts, zweiter Stuhl.) Ich habe diesen Blick nicht gesehen. Ich habe ihn verpasst, wie ich so vieles verpasst habe. Doch ich bin mir sicher, dass dieser Blick da war. Irgendwo in einer verwaschenen Landschaft aus unausgegorenen Vorstellungen und verschenkten Bildern existiert dieser Moment, und ich bewahre ihn für dich. Ich passe darauf auf. Genau darum wird dieser Moment nie verloren gehen. Weder für mich noch für dich. Hab keine Angst. Mir entkommt nichts mehr. Alles bleibt. Ich halte ihn fest, für immer, für dich.

Mittwoch
    Ich habe einmal von einem Taucher gehört, der an einer amerikanischen Küste an den Strand gespült worden war. Die Strömungen hatten ihn hunderte Kilometer weit getragen, hatten ihn tagelang nicht an die Oberfläche gelassen, bevor er unterlaufen und aufgedunsen vor den Füßen eines Rettungsschwimmers an den Strand geschwemmt wurde. Ich stelle mir vor, welcher Ausdruck im Gesicht dieses Tauchers gelegen haben muss, als man ihm die Maske vom Gesicht nahm und das Sauerstoffventil aus seinem Mund löste. Ein Gesicht wie ein verschreckter Fisch. Als Kind hat mir irgendwann jemand erzählt, dass sich in den Gesichtern von Toten die letzten Emotionen für immer einmeißeln. Mit Angst zu sterben sei schrecklich, vor allem für jene, die den Toten später finden. Die Behauptung ist natürlich stumpfsinnig, wie so viele Geschichten stumpfsinnig sind. Doch wenn man für einen Moment annimmt, dass sie stimmt, dann müsste in dem Gesicht meterhoch die Angst vor der Tiefe zu lesen gewesen sein, der Schrecken der Einsamkeit im Wasser, zusammengeschwappt zu einer aufgedunsenen, wächsern schillernden Maske. Einsamkeit macht Fratzen. (Und hat nicht irgendwann einmal jemand geschrieben:
Dort unten aber ist’s fürchterlich!
?)
    An jenem Mittwochabend ertrank ich fast im Palace. Ich weiß noch, dass ich die Backen aufblies, als ich eintrat. Die Türen schwangen mit einem schmatzenden Geräusch auf, und die Leere spülte mir entgegen, als wäre ein riesiger Wassertank plötzlich geborsten. Leo drängte sich an mir vorbei, ich hielt kurz im Schritt inne. Es schien mir, als läge der Raum vollkommen verlassen vor uns, als herrschte trotz der Musik eine unglaubliche Stille. Es war Furcht einflößend. Bis zur Decke sah ich eine dicke Flüssigkeit stehen, die Kellner kämpften gegen den sachten Widerstand der Wassermassen. Blasen stiegen von den Mündern hoch, wenn gesprochen wurde. Ich fiel neben Hannes in einen Stuhl und schlug auf wie ein Stein auf dem sandigen Meeresgrund.
    Jedes Mal, wenn ich das Geräusch der Tür hörte, ertappte ich mich dabei, wie ich den Kopf erwartungsvoll drehte. Jeder Gast, der eintrat, war eine kleine Erlösung, ein bisschen mehr Körper, der den Raum anfüllte, den Wasserspiegel etwas senkte und das Halbdunkel erträglicher machte. Ich war aufgekratzt. Es war, als kehrte ich in meine Wohnung zurück und entdeckte überall kleinste Veränderungen: Jemand, irgendjemand, ein Phantom, hatte Bilder verrückt, umgehängt, kleine Zeichnungen auf Postern hinterlassen; Stühle standen merklich anders, der Fernseher, den ich eigenhändig ausgeschaltet hatte, lief noch. In der Leere rührte sich etwas, und ich konnte nicht erkennen, was es war. Etwas war falsch, etwas war geändert worden und passte nicht mehr zu der Vorstellung, die ich mit diesem Ort verband. Es war höchst beunruhigend. Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her, meine Hände schwitzten.
    Ich weiß, dass ich mir überlegt hatte, ob ich den anderen irgendetwas von meiner Unruhe hätte sagen sollen. Als ich aber Hannes ansah, wie er da neben mir saß, war klar, dass hier nichts zu holen war. No-oh-way. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Schwäche wolltest du dir vor ihm nicht eingestehen.
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