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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung
Autoren: Lois Lowry
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dem Boden, brabbelte in seiner Babysprache vor sich hin und warf ab und zu einen zufriedenen Blick auf Jonas,
     offenbar froh darüber, ihn nach der unerwarteten Abwesenheit während der letzten Nacht wieder in seiner Nähe zu wissen.
    Vater blickte lächelnd auf den Kleinen. »Genieß das Spielen, kleines Kerlchen«, sagte er. »Du bist heute zum letzten Mal unser
     Gast.«
    »Was willst du damit sagen?«, fragte Jonas verblüfft.
    Vater seufzte enttäuscht auf. »Nun, du weißt, dass er heute früh nicht hier war, als du nach Hause gekommen bist, weil wir
     ihn letzte Nacht im Säuglingszentrum behalten haben. Da du ohnehin nicht hier warst, schien es eine gute Gelegenheit, einen
     Versuch zu wagen. In der letzten Zeit hatte er bei dir ja immer ziemlich ruhig durchgeschlafen.«
    »Und, benahm er sich nicht gut?«, fragte Mutter besorgt.
    Vater lachte wehmütig. »Das wäre eine Untertreibung. Es war eine Katastrophe! Er soll die ganze Nacht hindurch gebrüllt haben.
     Die Nachtpfleger wussten sich nicht zu helfen. Als ich morgens zur Ablösung kam, waren sie mit den Nerven völlig am Ende!«
    »Eli, du ungezogenes Kerlchen«, sagte Lily und schnalzte missbilligend mit der Zunge. Gabriel freute sich darüber, im Mittelpunkt
     der allgemeinen Aufmerksamkeit zu stehen, er strahlte sie an und gluckste zufrieden.
    »Außerdem«, fuhr Vater fort, »war es längst an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Bei der Versammlung heute Nachmittag
     stimmte selbst ich dafür, dass er freigegeben wird.«
    Klirrend legte Jonas seine Gabel auf den Tisch und starrte seinen Vater fassungslos an. »Freigegeben?«, fragte er.
    Vater nickte. »Wir haben getan, was wir konnten.«
    »Das stimmt«, pflichtete Mutter ihm bei.
    Auch Lily nickte zustimmend.
    Jonas hatte Mühe, seine Stimme zu kontrollieren. So ruhig wie möglich fragte er: »Wann? Wann wird er freigegeben?«
    »Gleich morgen früh. Da wir in den nächsten Tagen mit den Vorbereitungen für die Namensgebung alle Hände voll zu tun haben
     werden, haben wir beschlossen, die Sache mit Gabriel so schnell wie möglich über die Bühne zu bringen.«
    »Morgen früh heißt es für dich ›Adieu‹, Elilein«, sagte Vater mit seiner lieblichen Singsangstimme.
     
    Am anderen Ende der Brücke angelangt blieb Jonas für einen kurzen Moment stehen und blickte zurück. Die Gemeinschaft, in der
     er seine Kindheit verbracht hatte, lag nun schlafend hinter ihm. Im Morgengrauen würde das geordnete, disziplinierte Leben
     weitergehen, ohne ihn. Ein Leben, das keine Überraschungen barg. In dem nichts Außerplanmäßiges passierte. Nichts Ungewöhnliches.
     Ein Leben ohne Farben, ohne Schmerzen, ohne Vergangenheit.
    Entschlossen trat er dann wieder in die Pedale und fuhr weiter. Er durfte keine Zeit damit verlieren, sich immer wieder umzublicken.
     Er überlegte sich, welche Regeln er jetzt schon gebrochen hatte: genug, um im Falle des Geschnapptwerdens verurteilt zu werden.
    Erstens hatte er nachts das Haus verlassen. Ein schwerwiegendes Vergehen.
    Zweitens hatte er der Gemeinschaft Lebensmittel gestohlen: ein sehr schwerwiegendes Vergehen, obwohl er sich mit Resten begnügt
     hatte, die er in aller Schnelle von den Türschwellen der Nachbarhäuser eingesammelt hatte.
    Drittens hatte er das Rad seines Vaters gestohlen. Er hatte einen Moment lang in der Dunkelheit neben den Rädern gezögert,
     denn er wollte nichts nehmen, was seinem Vater gehörte, und überdies wusste er auch nicht, ob er auf diesem großen Rad fahren
     konnte, da er an sein eigenes, kleineres gewöhnt war.
    Aber es ging nicht anders, weil auf Vaters Rad der Kindersitz war.
    Und er hatte auch Gabriel mitgenommen.
     
    Er spürte, wie das kleine Köpfchen während der Fahrt ab und zu gegen seinen Rücken stieß. In den Kindersitz geschnallt schlief
     Gabriel tief und fest. Vor dem Verlassen der Wohnung hatte Jonas seine Hände auf Gabriels Rücken gelegt und ihm die beruhigendste
     und friedlichste Erinnerung übertragen, die er besaß: eine bedächtig schwingende Hängematte, die zwischen zwei Palmen aufgespannt
     war, irgendwo auf einer Insel, gegen Abend. Rhythmisch und träge schlugen die Wellen an den nahen Strand. Als die Erinnerung
     von ihm in das Kleinkind überging, spürte Jonas, wie Gabriels Schlaf tiefer und unbeschwerter wurde. Er rührte sich nicht,
     als Jonasihn aus dem Bettchen hob, ins Freie trug und auf dem gepolsterten Kindersitz festschnallte.
    Jonas wusste, dass er die verbleibenden Stunden der
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