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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung
Autoren: Lois Lowry
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dass die Piloten keine Farben sehen konnten und dass ihre Körper, genauso wie Gabriels blonde Löckchen, nur graue
     Flecken im farblosen Blätterwerk waren. Aber er wusste aus seinem Technologieunterricht in der Schule, dass alle Suchflugzeuge
     mit Wärmesensoren ausgestattet waren, die auf Körperwärme reagierten und zwei menschliche Körper im Gebüsch auf dem Bildschirm
     sichtbar machten.
    Immer wenn er das Geräusch eines herannahenden Flugzeugs hörte, packte er deshalb Gabriel und übertrug ihm Erinnerungen an
     Schnee, wobei er einen Teil der Erinnerungen selbstverständlich für sich behielt. Aneinandergeschmiegt kühlten sie dann beide
     ab, und wenn die Flugzeuge vorübergezogen waren, zitterten sie vor Kälte und hielten sich umklammert, bis sie wieder einschliefen.
    Wenn er Gabriel Erinnerungen übertrug, hatte Jonasmanchmal das Gefühl, sie wären flacher, etwas schwächer als früher. Das war es, was er erhofft und zusammen mit dem Geber
     geplant hatte: dass er die Erinnerungen verströmte und für die Bürger zurückkehren ließ, je weiter er sich von der Gemeinschaft
     entfernte. Doch jetzt, als er sie brauchte, weil die Flugzeuge kamen, versuchte er, sich mit aller Kraft an die letzten Erinnerungsfetzen
     zu klammern und sie für sein und Gabriels Überleben zu nutzen.
    Normalerweise kamen die Flugzeuge nur tagsüber, wenn er und Gabriel sich ohnehin versteckt hielten. Aber er war auch nachts
     auf der Hut, wenn er auf dem Rad saß, und spitzte die Ohren, um das Geräusch eines sich eventuell nähernden Flugzeugs nicht
     zu überhören. Selbst Gabriel passte auf und rief manchmal: »Fugze! Fugze!«, noch ehe Jonas das Angst einflößende Geräusch
     hörte. Wenn sich während ihrer nächtlichen Radfahrt ein Suchflugzeug näherte, was allerdings nur selten vorkam, raste Jonas
     auf den nächstbesten Baum oder auf ein Gebüsch zu, ließ sich zu Boden fallen und kühlte sich und Gabriel ab. Aber manchmal
     ertönte das Dröhnen des Flugzeugmotors beängstigend nah über ihren Köpfen.
    Während er nachts durch mittlerweile einsame Landschaften radelte – die Gemeinschaften lagen weit hinter ihm und es gab weit
     und breit kein Anzeichen für menschliche Siedlungen   –, war er stets auf der Hut und hielt immer nach einer VersteckmöglichkeitAusschau, falls demnächst ein Flugzeugmotor zu hören sein sollte.
    Doch die Flugzeuge kamen allmählich seltener. Wenn doch noch gelegentlich eins am Himmel vorüberzog, flog es schneller, so
     als wäre die Suche nur noch planlos und als hätten die Piloten jede Hoffnung auf Erfolg bereits aufgegeben. Schließlich kam
     einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang kein einziges Flugzeug mehr.

22
    Die Landschaft veränderte sich. Es war eine langsame, anfangs kaum erkennbare Veränderung. Der Weg war schmaler und holpriger und wurde offensichtlich nicht mehr
     von Landschaftsgärtnern gepflegt. Es wurde zunehmend schwerer, das Fahrrad im Gleichgewicht zu halten, während es über Steine
     und durch Furchen holperte.
    Als das Rad eines Nachts gegen einen großen Stein fuhr, fiel Jonas vom Sattel. Instinktiv griff er nach Gabriel, doch das
     Kind, das sicher auf seinem Kindersitz angeschnallt war, war zum Glück nicht verletzt worden. Es war mit einem kleinen Schrecken
     davongekommen, als das Rad zur Seite kippte. Doch Jonas hatte sich den Knöchel verrenkt und das Knie aufgeschürft. Blut sickerte
     durch das Loch in seiner Hose. Unter Schmerzen richtete er sich und das Rad wieder auf und beruhigte Gabriel.
    Versuchsweise begann er, tagsüber weiterzufahren. Die Angst vor den Suchflugzeugen war vergessen, da sie seit mehreren Tagen
     unbehelligt geblieben waren. Aber inzwischen waren neue Ängste aufgetaucht. Die ungewohnte, fremde Landschaft barg unbekannte
     Gefahren.
    Die Bäume standen dichter und die Wälder zu beiden Seiten des Weges kamen Jonas düster und geheimnisvoll vor. Sie kamen öfter
     an kleinen Bächenvorbei und hielten dann an, um daraus zu trinken. Gleich am ersten Bach säuberte Jonas sorgfältig sein verletztes Knie. Er
     musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzuschreien, als er über die offene Wunde rieb. Dafür ließen die ständigen
     Schmerzen in seinem Knöchel etwas nach, als er ihn in das kühle Wasser eintauchte.
    Es wurde ihm erneut bewusst, dass Gabriels Überleben einzig und allein davon abhing, dass er, Jonas, bei Kräften blieb.
    Mit großem Staunen sahen sie den ersten Wasserfall und die ersten Tiere ihres
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