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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung
Autoren: Lois Lowry
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Unterernährung wurde. Jetzt war er mit etwas konfrontiert,
     wonach er sich so lange gesehnt hatte: Berge und Hügel. Sein verstauchter Knöchel pulsierte wie wild, als er mit fast übermenschlichen
     Kräften unermüdlich in die Pedale trat.
    Auch das Wetter hatte sich verändert. Zwei Tage lang regnete es ununterbrochen. Jonas hatte Regen zwar noch nie erlebt, kannte
     ihn aber aus den Erinnerungen. Regen wie dieser jetzt hatte ihm in derErinnerung gefallen, aber ihn nun tatsächlich am eigenen Leibe zu erfahren war etwas anderes. Er und Gabriel froren. Sie waren
     völlig durchnässt, und selbst wenn zwischendurch kurz die Sonne schien, wurden sie nicht mehr ganz trocken.
    Gabriel hatte während der ganzen anstrengenden Reise bisher nie geschrien. Jetzt tat er es. Er schrie, weil er Hunger hatte,
     weil er fror und geschwächt war. Auch Jonas weinte, zum Teil aus demselben Grund, aber auch noch aus einem weiteren. Er weinte,
     weil er ernsthaft befürchtete, Gabriel nicht retten zu können. Um sich selbst machte er sich schon längst keine Sorgen mehr.

23
    Jonas gelangte immer mehr zu der Überzeugung, dass sein Reiseziel unmittelbar vor ihm liegen musste, ganz nah vor ihm in der einbrechenden
     Nacht. Keiner seiner Sinne konnte ihm das bestätigen. Vor sich sah er nichts als das endlose Band des Weges, der sich in engen
     Kurven vor ihm den Berg hinaufschlängelte. Über seinem Kopf hörte er kein Geräusch.
    Und doch spürte er es. Er spürte, dass
Anderswo
nicht mehr weit entfernt war.
    Aber er hatte wenig Hoffnung, dass er noch in der Lage war, dorthin zu gelangen. Seine Hoffnung schrumpfte noch mehr, als
     die schneidend kalte Luft, die ihn umgab, zu verschwimmen begann und ihn und das Kind in einen weißen Schneewirbel hüllte.
    Gabriel, in die viel zu dünne Decke gewickelt, kauerte vornübergebeugt, zitternd und stumm, in seinem kleinen Sitz. Jonas
     blieb müde stehen, hob das Kind heraus und stellte mit Entsetzen fest, wie kalt und leicht Gabriel geworden war.
    Die weiße Schneedecke um seine tauben Füße wurde rasch dichter, als Jonas stehen blieb, seine Tunika öffnete, Gabriel an seine
     nackte Brust drückte und die zerrissene, schmutzige Decke um sie beide hüllte. Gabriel rieb sich sanft an ihm und wimmerte
     kurz in die völlige Stille, die sie umgab.
    Undeutlich, mit einer Vorstellung, die fast ebenso verschwommen war wie die Substanz selbst, versuchte Jonas sich zu erinnern,
     was diese weißen Flocken waren. »Das ist Schnee, Eli«, flüsterte er.
» Schneeflocken.
Sie fallen vom Himmel. Schau nur, wie wunderschön sie sind!«
    Von dem Kind, das sonst so neugierig und aufgeweckt gewesen war, kam keine Reaktion.
    Jonas spähte durch die Dämmerung auf den kleinen Kopf, der an seiner Brust ruhte. Gabriels früher blonde Löckchen waren jetzt
     schmutzig und verfilzt und auf seinen bleichen, schmutzverkrusteten Wangen zeichneten sich die Spuren von Tränen ab. Seine
     Augen waren geschlossen. Jonas sah eine Schneeflocke herabschweben und für einen Moment auf den langen, flatternden Wimpern
     schimmern.
    Müde stieg er wieder auf das Rad. Ein steiler Hügel zeichnete sich schemenhaft vor ihm ab. Selbst unter optimalen Bedingungen
     wäre dieser Hügel eine schwierige Herausforderung gewesen. Doch jetzt vergrub die rasch anwachsende Schneeschicht den engen
     Weg unter sich und machte die Weiterfahrt unmöglich. Als er mit seinen tauben, gefühllosen, erschöpften Beinen in die Pedale
     trat, schob sich das Vorderrad kaum noch vorwärts. Dann blockierte es. Die Räder bewegten sich nicht mehr.
    Jonas stieg ab und ließ das Fahrrad seitlich in den Schnee fallen. Einen Augenblick lang stellte er sich vor, wie einfach
     es wäre, sich danebenzulegen, sichund Gabriel dem weichen Schnee, dem Dunkel der Nacht und dem warmen Trost des Schlafes zu überlassen.
    Aber er hatte es bis hierher geschafft. Er durfte nicht aufgeben.
    Die Erinnerungen hatte er hinter sich gelassen. Sie waren seiner Obhut entglitten und waren zu den Leuten der Gemeinschaft
     zurückgekehrt. Trug er überhaupt noch eine Erinnerung in sich? Konnte er sich noch an einen letzten Strohhalm der Wärme klammern?
     Hatte er noch etwas Kraft übrig, um sie zu übertragen? Konnte Gabriel noch aufnehmen?
    Die Hände fest auf Gabriels Rücken gepresst versuchte er, sich an Sonnenschein zu erinnern. Einen Moment lang kam es ihm so
     vor, als würde nichts in ihm aufsteigen, als wäre seine Kraft verbraucht. Doch dann flackerte etwas auf und
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