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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung
Autoren: Lois Lowry
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Nacht ausnutzen musste, bevor sein Verschwinden auffallen würde. Aus diesem
     Grund fuhr er so schnell wie möglich und gleichmäßig. Er versuchte, keine Müdigkeit in sich aufkommen zu lassen, während die
     Stunden vergingen und er die Meilen hinter sich ließ. Die neuen Umstände hatten es ihm nicht erlaubt, die Erinnerungen von
     Stärke und Mut aufzunehmen, wie er und der Geber es ursprünglich geplant hatten. Er musste sich mit dem begnügen, was er in
     sich trug, und konnte nur hoffen, dass es ausreichen würde.
    Er radelte durch die umliegenden Gemeinschaften, deren Häuser im Dunkeln lagen. Die Entfernungen zwischen den einzelnen Gemeinschaften
     wurden immer größer. Die leeren Straßen, die sie miteinander verbanden, immer länger. Seine Beine begannen zu schmerzen, doch
     nach einer Weile wurden sie empfindungslos.
    Im Morgengrauen wurde Gabriel unruhig. Sie waren inzwischen in einer einsamen Gegend. Die Wiesen zu beiden Seiten des Weges
     waren nur mit einzelnen Bäumen und Büschen bewachsen. Jonas entdeckte einen Fluss und fuhr über eine zerfurchte, unebene Wiese
     darauf zu. Gabriel, der inzwischen wach war, krähte vor Vergnügen, als er auf dem holprigen Weg auf und ab geschleudert wurde.
    Jonas hielt an, schnallte Gabriel los, hob ihn vom Rad und schaute zu, wie der Kleine voller Begeisterung begann, das hohe
     Gras und ein paar herumliegende dünne Äste zu inspizieren. Vorsichtig wie er war, versteckte Jonas das Rad im Dickicht einiger
     Büsche.
    »Frühstück, Gabriel!« Er packte seine Vorräte aus und aß, während er gleichzeitig Gabriel fütterte. Dann füllte er den mitgebrachten
     Becher mit dem klaren Wasser des Stroms und hielt ihn Gabriel hin. Danach stillte er seinen eigenen Durst, saß am Ufer und
     beobachtete Gabriel beim Spielen.
    Er war müde und erschöpft. Er wusste, dass er Schlaf brauchte, dass seine Muskeln sich erholen mussten, bevor er weitere Stunden
     auf dem Fahrrad in Angriff nehmen konnte. Es wäre ohnedies viel zu gefährlich, bei Tageslicht weiterzufahren.
    Bestimmt würden sie bald nach ihm suchen.
    Er entdeckte ein gut verstecktes Plätzchen unter einigen Bäumen. Er holte Gabriel und streckte sich auf dem Boden aus, das
     Kind zärtlich an sich gedrückt. Gabriel glaubte, es handle sich um das Spiel, das sie früher zu Hause mit viel Gekitzel und
     Gelächter gespielt hatten, und versuchte fröhlich, sich loszustrampeln.
    »Tut mir leid, Gabriel«, sagte Jonas. »Ich weiß, dass es früh am Morgen ist und dass du eben erst aufgewacht bist. Aber wir
     müssen jetzt schlafen.«
    Er drückte den kleinen warmen Körper an sichund rieb über den schmalen Rücken. Beruhigend sprach er auf den Kleinen ein. Dann drückte er seine Hände fest auf den Rücken
     und übertrug die Erinnerung an eine tiefe Erschöpfung. Gabriels Köpfchen fiel herab und ruhte an Jonas’ Brust. Eng aneinandergekuschelt
     schliefen die beiden Ausreißer den ganzen ersten gefährlichen Tag hindurch.
     
    Das Schlimmste waren die Flugzeuge. Es waren bereits viele Tage vergangen; Jonas wusste nicht mehr, wie viele. Seine Flucht
     lief jetzt fast automatisch ab. Sobald es Tag wurde, suchte er eine Wasserstelle, teilte sorgsam die kärglichen Vorräte auf,
     suchte die Umgebung nach etwas Essbarem ab und dann wurde den ganzen Tag über geschlafen. Die Nächte verbrachten sie auf dem
     Fahrrad, wobei sie endlose Meilen zurücklegten.
    Jonas’ Beinmuskulatur war inzwischen gestählter. Die Beine schmerzten zwar jedes Mal, wenn er sich morgens zum Schlafen niederlegte,
     aber sie waren sehr viel kräftiger geworden und er brauchte weniger Ruhepausen. Manchmal machte er eine Pause, hob Gabriel
     vom Kindersitz, damit er sich etwas bewegen konnte, und rannte mit ihm im Dunkeln über ein Feld oder ein Stück die Straße
     entlang. Doch immer, wenn sie zurückkehrten und er Gabriel, der erstaunlicherweise niemals murrte, wieder auf dem Kindersitz
     festschnallte und aufstieg, waren seine Beine wieder bereit.
    Zum Glück hatte er also genügend Kraft und brauchte das nicht, was der Geber ihm noch übertragen wollte, wenn sie genügend
     Zeit gehabt hätten.
    Doch immer wenn die Flugzeuge kamen, wünschte er, er hätte wenigstens Mut übertragen bekommen.
    Er wusste, dass es Suchflugzeuge waren. Sie flogen so tief, dass das Dröhnen der Motoren ihn aufweckte, und manchmal, wenn
     er ängstlich aus seinem Versteck an den Himmel spähte, konnte er fast die Gesichter der Piloten erkennen.
    Er wusste,
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