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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung
Autoren: Lois Lowry
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er fühlte winzige
     Hitzezünglein über seine Haut kriechen und in seine halb erfrorenen Füße und Beine steigen. Er spürte, wie sein Gesicht zu
     glühen begann und wie sich die starre, kalte Haut seiner Arme und Hände entspannte. Den Bruchteil einer Sekunde lang spürte
     er das Verlangen, es für sich zu behalten, im angenehmen Sonnenlicht zu baden und sich von nichts und niemandem daran hindern
     zu lassen.
    Doch diese Versuchung ging rasch vorüber und wurde von dem Drängen, dem Bedürfnis, der leidenschaftlichen Sehnsucht verdrängt,
     die Wärme mit dem einzigen Menschen zu teilen, der ihm noch gebliebenwar. Vor Anstrengung keuchend zwang er die Erinnerung an Wärme in den dünnen, zitternden kleinen Körper in seinen Armen.
    Gabriel rührte sich sachte. Einen Augenblick lang wurden sie beide von einer Welle der Wärme und neuer Kraft überflutet, während
     sie eng aneinandergeschmiegt im dicht fallenden Schnee standen.
    Jonas begann, den Hügel zu erklimmen.
    Die Erinnerung hielt nur entsetzlich kurz an. Er hatte sich erst mühsam ein paar Meter durch die Nacht geschleppt, als sie
     verblasste und die Kälte erneut von ihren Körpern Besitz ergriff.
    Aber geistig war Jonas jetzt hellwach. Diese kurze Wärmewallung hatte ausgereicht, ihn seine Lethargie und Resignation abschütteln
     zu lassen, und sein Überlebenswille gewann erneut die Oberhand. Er begann, schneller zu gehen, auf Beinen, die er längst nicht
     mehr spürte. Doch der Berg war heimtückisch steil und Jonas’ Schritte wurden durch den Schnee und seine körperliche Schwäche
     erschwert. Er war noch nicht sehr weit gekommen, als er stolperte und zu Boden fiel.
    Auf den Knien, unfähig, sich wieder aufzurichten, versuchte er es ein zweites Mal. Sein Bewusstsein tastete nach einem weiteren
     Fetzen einer wärmenden Erinnerung und verzweifelt versuchte er, diesen festzuhalten, zu intensivieren und an Gabriel weiterzuleiten.
     Beim Aufflackern der kurzen Wärme gewann er neue Kraft und Zuversicht und richtete sich auf.Wieder begann Gabriel, sich schwach zu bewegen, während Jonas entschlossen bergauf taumelte.
    Doch auch diese Erinnerung verblasste viel zu rasch und ließ Jonas die Kälte anschließend noch stärker empfinden als zuvor.
    Wenn er nur Zeit gehabt hätte, vom Geber vor seiner Flucht mehr Wärme aufzunehmen! Vielleicht hätte er dann noch ein paar
     Reserven. Aber es hatte keinen Sinn, sich lange damit aufzuhalten, was sein könnte, wenn   … Er musste seine ganze Konzentration dafür aufwenden, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich und Gabriel zu wärmen.
    Er stolperte weiter, blieb kurz stehen und wärmte sie beide mit einem winzigen Splitter einer Erinnerung – bestimmt der letzte,
     den er noch übrig hatte.
    Der Gipfel des Hügels schien noch immer unendlich weit entfernt und er hatte nicht die leiseste Ahnung, was dahinterlag. Aber
     ihm blieb nichts anderes übrig, als seinen Weg fortzusetzen. Er schleppte sich voran.
    Als der Gipfel des Hügels endlich näher zu kommen schien, geschah etwas. Es wurde nicht wärmer. Wenn überhaupt, dann fühlte
     Jonas sich eher noch starrer und kälter. Er war auch nicht weniger erschöpft; im Gegenteil, seine Schritte waren schwerfällig,
     da er seine erfrierenden, müden Beine kaum noch bewegen konnte.
    Doch er empfand plötzlich ein Glücksgefühl. Er dachte an glückliche Zeiten zurück. Er dachte anseine Eltern und an seine Schwester. Er dachte an seine Freunde, Asher und Fiona. Er dachte an den Geber.
    Erinnerungen der Freude durchfluteten ihn mit einem Mal.
    Er war offenbar auf dem Gipfel des Hügels angelangt, denn der Boden unter seinen schneebedeckten Füßen wurde eben. Er würde
     nicht mehr weiter bergauf gehen müssen.
    »Wir sind fast da, Gabriel«, flüsterte er und war sich dessen mit einem Mal ganz sicher, ohne zu wissen, warum. »Ich kenne
     diesen Ort, Eli.« Und es war wahr. Aber es war kein Sich-Klammern an eine dünne, verblassende Erinnerung. Das hier war etwas
     anderes. Es war etwas, das er festhalten konnte. Es war eine seiner eigenen Erinnerungen.
    Er drückte Gabriel noch enger an sich und rieb ihn kräftig, um ihn zu wärmen und am Leben zu erhalten. Ein bitterkalter Wind
     blies ihm um die Ohren. Die Schneeflocken wirbelten kräftiger, nahmen ihm die Sicht. Doch irgendwo da vorne, dort im Schneesturm,
     das wusste er, waren Wärme und Licht.
    Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte und mit einer Art höherem Wissen, das tief aus seinem Inneren
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