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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung
Autoren: Lois Lowry
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werden sie das Auswahlverfahren
     beschleunigen, ganz ohne Zweifel. Es gibt da ein Kind, das die nötigen Eigenschaften aufweist   …«
    »Das kleine Mädchen mit hellen Augen? Aber sie ist erst ein Sechser.«
    »Stimmt. Ich weiß, wen du meinst. Sie heißt Katharina. Aber sie ist noch zu klein. Deshalb werden sie gezwungen sein, selbst
     mit den Erinnerungen fertig zu werden.«
    »Ich möchte aber, dass Ihr mitkommt, Geber«, bettelte Jonas.
    »Nein, ich muss hierbleiben«, sagte der Geber mit fester Stimme. »Ich möchte es, Jonas. Wenn ich mit dir ginge, würden wir
     ihnen allen Schutz vor den Erinnerungen wegnehmen, die Gemeinschaft hätte niemanden mehr, der ihr zur Seite stehen könnte.
     Es entstünde ein absolutes Chaos. Sie würden sich selbst vernichten. Nein, ich kann nicht gehen.«
    »Geber«, sagte Jonas zögernd, »müssen wir beide, Ihr und ich, uns wirklich für sie verantwortlich fühlen?«
    Der Geber zog die Augenbrauen hoch und lächelte Jonas fragend an. Jonas senkte den Kopf. Natürlich mussten sie sich verantwortlich
     fühlen. Das war der Sinn von allem.
    »Wie dem auch sei, Jonas«, sagte der Geber seufzend, »ich würde es sowieso nicht schaffen. Ich bin alt und schwach. Habe ich
     dir schon gesagt, dass ich keine Farben mehr sehe?«
    Jonas wurde es schwer ums Herz. Er streichelte die Hand des Alten.
    »Du hast die Farben«, fuhr der Geber fort. »Und du hast den nötigen Mut. Ich werde dir helfen, auch die nötige Kraft zu erlangen.«
    »Vor einem Jahr«, sagte Jonas, »kurz bevor ich ein Zwölfer wurde, begann ich, die erste Farbe zu sehen, und Ihr sagtet mir,
     dass Ihr zu Beginn Eurer Ausbildung eine andere Erfahrung gemacht hattet. Aber dass ich sie nicht verstehen würde.«
    Die Miene des Gebers hellte sich auf. »Das ist richtig. Und weißt du was, Jonas? Mit all dem Wissen, mit all den Erinnerungen,
     mit all dem, was du bisher gelernt hast, würdest du es noch immer nicht verstehen! Denn ich war ein bisschen egoistisch. Ich
     habe dir noch nichts davon übertragen. Ich wollte es bis zuletzt in mir tragen.«
    »Was?«
    »Als ich ein Junge war, noch jünger als du jetzt, begann es. Ich sah nicht über die Dinge hinaus wie du. Es war anders. Ich
hörte
über die Dinge hinaus.«
    Jonas versuchte sich vorzustellen, was der Geber meinte. »Was habt Ihr gehört?«, fragte er.
    »Musik«, sagte der Geber mit einem wehmütigen Lächeln. »Ich begann, etwas wirklich Großartiges zu hören, das man Musik nennt.
     Ich übertrage dir einiges davon, bevor du gehst.«
    Abwehrend schüttelte Jonas den Kopf. »Nein, Geber«, sagte er. »Ich möchte, dass Ihr es behaltet, damit Ihr es noch besitzt,
     wenn ich fort sein werde.«
     
    Am nächsten Morgen ging Jonas nach Hause, begrüßte seine Eltern höflich wie immer und log ihnen vor, welch interessante, angenehme
     Nacht er beim Geber verbracht hatte.
    Sein Vater lächelte und log genauso mühelos, indem er ihm von seinem interessanten, angenehmen gestrigen Arbeitstag berichtete.
    Während des ganzen Schulunterrichts ging Jonas den Plan immer wieder durch. Alles schien erstaunlich einfach. Er und der Geber
     hatten es immer wieder durchgesprochen, bis spät in die Nacht.
    In der Zeit bis zur nächsten Dezember-Zeremonie, also innerhalb der nächsten zwei Wochen würde der Geber Jonas alle Erinnerungen
     übergeben, aus denen er Mut und Kraft schöpfen konnte.
    Das würde er brauchen, wenn er sich auf die Suchenach
Anderswo
machte, von dem beide überzeugt waren, dass es existierte. Sie wussten, dass es eine beschwerliche Reise werden würde.
    In der Nacht vor der Zeremonie würde Jonas heimlich das Haus verlassen. Das war vermutlich der gefährlichste Teil der ganzen
     Geschichte, denn ein Bürger, der sich ohne offizielle Erlaubnis erdreistete, nachts seine Wohnung zu verlassen, verstieß gegen
     eine der wichtigsten Regeln.
    »Ich gehe gleich nach Mitternacht«, hatte Jonas beschlossen. »Die Müllmänner werden bis dahin die Reste des Abendessens eingesammelt
     haben und die Straßenkehrer beginnen ihre Arbeit erst in den frühen Morgenstunden. Deshalb wird mich um diese Zeit niemand
     sehen, es sei denn, jemand wäre wegen eines Notfalls unterwegs.«
    »Ich kann dir nicht sagen, wie du dich verhalten musst, wenn du gesehen wirst, Jonas«, hatte der Geber gesagt. »Ich habe natürlich
     Erinnerungen an alle möglichen Fluchten. Es kam in der Geschichte der Menschheit immer wieder vor, dass Leute vor schrecklichen
     Umständen fliehen mussten.
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