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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter
Autoren: Birgit Lautenbach
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hinter sich ins Schloss. Ganz leise, als sei es noch mitten in der Nacht und die Mutter schlafe noch. Dabei hatte sie schon das Frühstücksgeschirr abgewaschen und rumpelte jetzt mit dem Staubsauger über die Fußböden.
    Mach die Jacke zu und binde dir einen Schal um, Marten, hatte sie vor ein paar Tagen über das Staubsaugerbrummen hinweg gerufen. Aber gestern nicht und heute auch nicht, weil es mild wie sonst nur im Sommer war. Ein warmer Wind aus Spanien, sagte die Stimme im Radio. Und ein zauberblauer Himmel mit einer kugelrunden Herbstsonne, das konnte Marten selbst sehen, dafür brauchte er kein Radio. Der spanische Wind rüttelte an den Bäumen, bis bei Niemeyer weiter hinten am Süderende die ersten Walnüsse ins Gras fielen. Er pustete Gelb und Rot über das Hochland und färbte damit die Blätter bunt.
    Als die Sonne sich Richtung Himmel schob, begannen die Kraniche über den Boddenwiesen zu tröten. Vorn an der Spitze flogen die Chefs, die wussten, wo es nach Afrika ging. Marten konnte die dunklen Federn der Flügel erkennen, die langen Hälse und die ausgestreckten Beine und auch, dass der große Keil nicht fertig werden wollte, in dem sie hinüber zum Darß und weiter in Gegenden flogen, die Marten nie im Leben zu sehen bekommen würde.
    Er holte tief Luft und pustete sie durch halb geschlossene Lippen wieder aus, so erleichtert war er, dass er hierbleiben und auf den Winter warten durfte. Dann wurde es still auf der Insel, und er wagte sich sogar mitten am Tag bis zum Enddorn hinaus oder ans Steilufer, wenn der Sturm Bernsteine und Hühnergötter brachte.
    Vielleicht fand er schon in diesem Jahr einen, wie er ihn Leonie geschenkt hatte. Ganz flach und glänzend wie Lakritz, mit einem winzigen Loch und elfenbeinhellen Flecken.
    den ganzen Tag hatte er den Glücksstein fest in den Händen gehalten, von einer in die andere gleiten lassen und mit den Fingerspitzen die weichen, glatten Kuhlen gespürt, die geblieben waren, obwohl er ihn wieder und wieder poliert hatte. Der Stein beruhigte ihn, und er musste nur ein paar Mal zwinkern, als die grellen Lichter an den Fotoapparaten blitzten. Es war nur gut, dass es zu Leonies Taufe längst nicht so viele wie im Sommer waren und die Männer nur in die Kirche durften, wenn sie nicht fotografierten. Er vergaß, dass sie da waren, weil er sich einfach nicht umdrehte und ganz lange zu dem dicken Engel hinaufsah, der von der Rosendecke herabschwebte und mit seinen weit aufgerissenen Augen auch ein bisschen so guckte, als habe er Angst vor den Menschen.
    das tröstete ihn wie der warme Stein in der Hand und Daniels Nähe, auch wenn der Leonie auf dem Schoß und Tränen zwischen den Wimpern hatte. Noch eine Sorte Tränen, dachte Marten. Wenn sich ein dünner Kinderfinger in die Nase piekt, kommen Tränen, ob man will oder nicht.
    Ich taufe dich auf den Namen Leonie Daniela Martina, sagte der Pastor mit dunkler Stimme.
    Fast hätte Marten kichern müssen, so viele Namen für ein so kleines Kind. Aber dann merkte er doch, wie stolz er war, zwischen Daniel und Marie zu stehen und dem Kind seinen Namen zu geben. Leonie Daniela Martina quäkte, als ihr die Wassertropfen über die Stirn kullerten.
    Am nächsten Tag waren Bilder in der Zeitung gewesen. Auf der linken Seite ein Foto von Daniel. Rechts neben den großen Buchstaben eines von Marten, auf dem er diesmal nicht wie ein Monster wirkte. Dazwischen stand Die Helden von Hiddensee.
    Helden sind Menschen, die das Richtige tun, obwohl sie sich fürchten, Marten.
    die Kraniche zogen davon, als er den Seedeich erreichte. Im spanischen Wind kabbelten die Wellen mit sahneweißen Hauben zwischen den Buhnen. Bis vor ein paar Tagen hatte der Turner morgens mit seinem Sonnengebet noch am Strand gestanden. Jetzt war sein Platz leer. Marten war sicher, er würde ihn nächstes Jahr wieder mit einem Fuß am Knie im Sand stehen sehen, die Hände Richtung Himmel erhoben.
    Bis dahin würde der Strand so daliegen wie jetzt, weit und menschenleer, die Spuren des Sommers von puderzuckerfeinem Sand überweht, mit dunklen Seetangplacken, die größer und dichter wurden, bis ein Wintersturm sie auseinanderfetzte und davontrieb. Marten blieb stehen, die Hände tief in den Hosentaschen. Mit den Ellenbogen wackelte er vor und zurück wie ein ungelenkes, knochiges Flugtier. Er konnte sich Zeit lassen, noch war außer ihm niemand am Strand. Nur ganz in der Ferne bewegten sich winzige Punkte, so weit weg, dass er nicht einmal erkannte, wie viele
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