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Hühnergötter

Titel: Hühnergötter
Autoren: Birgit Lautenbach
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Sandra Marwede dieses Haus bewohnt hatte, dann gehörte sie entweder nicht dazu, oder sie hatte ihren Schlüssel so gut versteckt, dass Pieplow ihn auch zwischen dem Werkzeug im Schuppen nirgendwo finden konnte.
    Beinahe hätte er das Stemmeisen beiseite gelegt wie zuvor schon Hammer, Zangen und Schraubenschlüssel. Es war, als ströme in dieser Sekunde des Zögerns mehr Wut und Entschlossenheit aus dem kalten Metall in seine Hand, als er brauchte, um wieder den Hammer zu greifen, die wenigen Schritte zum Haus zurückzugehen und die Stemmeisenspitze dicht über dem Schloss zwischen Zarge und Türblatt anzusetzen. Die dicke braune Farbschicht platzte unter den Schlägen vom splitternden Holz ab, und es brauchte nur wenig Kraft am Ende des Eisens, um das Schloss aufzuhebeln. Die Tür schwang zurück und schlug dumpf gegen die Flurwand.
    Pieplow trat ins Haus. Das Erdgeschoss war leer. In der stickigen Luft hing ein fauliger, säuerlicher Geruch wie von altem Erbrochenen, der intensiver wurde, als er die Stiege unter das Dach hinaufhastete. In der dämmrigen Hitze der Dachkammer standen die Betten entlang der Giebelwand und unter den Dachschrägen. Es waren vier, aber nur eines davon bezogen. Und Pieplow ahnte das Kind mehr, als dass er es sah.
    Es strömte diesen sauren, scharfen Geruch aus. Und es bewegte sich nicht.
    Er legte seine Hand vorsichtig auf den winzigen Brustkorb. Als er spürte, wie es darin klopfte, ging er auf die Knie. Wie vor einem Altar kniete er neben dem Bett mit dem schmutzigen Laken und murmelte »Gott sei dank«, immer wieder »Gott sei dank«, während er mit den Fingerspitzen zart über Leonies Gesicht fuhr, bis sie, ohne die Augen zu öffnen, leise seufzte.
     

     
    Ostwald hielt Marie mit ausgestrecktem Arm das Bild einer jungen Frau entgegen. Halblanges Haar, links hinter das Ohr geschoben, ein spöttisches Lächeln.
    »Kennen Sie diese Frau?«, fragte er.
    »Nein, wer soll das sein? Hat sie … Wo ist Leonie?« Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte, und die Frage kam heiser gepresst, fast wie geflüstert.
    »Wir haben Leonie noch nicht gefunden, Marie.« Ihr fiel nicht auf, dass Schöbel sie beim Vornamen nannte, und auch nicht, dass seine Antwort ausweichend war.
    »Und Sie? Was ist mit Ihnen?« Ostwalds Hand schwenkte mit dem Bild zu Oliver hinüber. »Wissen Sie, wer das ist?«
    Oliver schob die Unterlippe nach vorn. Er wiegte mit dem Kopf von links nach rechts und wieder zurück. »Möglich, dass ich sie irgendwo schon gesehen habe, aber ich wüsste beim besten Willen …«
    »Sie können also nicht sagen, wo sie wohnt?«, unterbrach Ostwald ihn unwirsch.
    »Wie denn, wenn ich nicht mal weiß, wo ich ihr begegnet bin?«
    In diesem Moment klingelte das Telefon. Marie hob nicht ab, weil sie die Stimmen nicht mehr ertrug. Forsch oder ölig, höflich gedrechselt oder brutal direkt – sie wollten immer dasselbe wissen.
    Wie es ihr ging. Was sie und Oliver fühlten. Ob sie einen Verdacht hätten, wer ihr Kind geraubt haben könnte. Es waren Zeitungsnamen dabei, die Marie noch nie gehört hatte. Aber als der Anrufbeantworter ansprang, erkannte sie Pieplows Stimme sofort, auch wenn sie rau und mühsam beherrscht aus dem Lautsprecher kam.
    »Marie, hier ist Daniel. Leonie lebt. Sie ist im Kranichhaus. Ich habe …« Er wollte ihr noch sagen, dass er Ostwald noch nicht informiert hatte, dass sie ruhig bleiben sollte, in Polizeibegleitung kommen, damit die Heidefläche rund um das Haus abgesperrt werden konnte, aber im Grunde wusste er vorher, was jetzt geschehen würde.
    Marie schoss aus dem Sessel hoch und rempelte Schöbel an, der sich zum Telefon vorgebeugt hatte. Sie riss die Türen auf und stürmte hinaus, stieß den Polizisten beiseite, der ihr Gartentor bewachte, und drängte sich durch die verdutzten Wegelagerer davor. Sie hörte, wie aufgeregt hinter ihr hergerufen wurde. Fast wäre sie gestolpert, als ein Fahrradfahrer neugierig anhielt und ihr das Vorderrad vor die Füße drehte.
    Aber dann fassten ihre langen Beine Tritt. Sie jagte das Süderende hinunter, über den Außendeich quer durch die Heide und schien mit jedem Schritt schneller zu werden. Die Explosion von Angst und Glück ließ Herz und Lungen wie starke Motoren eine gewaltige Kraft durch ihren Körper pumpen, die sie bis in das Haus trug.
    Und plötzlich ging alles sehr langsam. Der letzte Schritt auf das Kind in Pieplows Arm zu, so vorsichtig, als gehe sie auf dünnem Eis. Die Bewegung der Hände zu Leonie
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