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Hüftkreisen mit Nancy

Hüftkreisen mit Nancy

Titel: Hüftkreisen mit Nancy
Autoren: Stefan Schwarz
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los! Es hat eine Riesenschweinerei bei der Eröffnung der Landesleistungsschau gegeben. Torten! Ich weiß nicht, wie viele. Du machst dir keine Vorstellung. Wir schicken jeden verdammten Mann raus! Du hast doch mal mit diesen Verrückten gedreht. Wir brauchen Kontakte. Wo bist du? Mach dich auf die Socken! Sofort!»
    «Chef», sagte ich, während Rikki ihr Haar frottierte und in den Spiegel Grimassen schnitt, «ich kann nicht. Ich habe einen Friseurtermin!»
    «Einen Friseurtermin? Beweg deinen Arsch hierher! Verstehst du nicht? Hundert Torten, Mann! Wenigstens! Es gibt überhaupt kein freies Gesicht mehr!»
    «Geht echt nicht. Ich hab lange auf diesen Friseurtermin hingearbeitet, äh, warten müssen, Chef!», wimmelte ich ihn ab. «Ich komme, wenn ich hier fertig bin.»
    «Ist das der Tag der Irren, oder was?!», schrie Chef. «Das Ding der Dinger passiert, und er hat einen Friseurtermin, haltet mich fest, haltet mich alle fest   …» Dann schmiss er auf.
    «Bringen wir es hinter uns», meinte Rikki und nahm das Handtuch ab. Sie hatte ziemlich große Ohren. «Föhn bloß los, Mann. Ich sehe ja aus wie Dumbo»
    Ich nahm den 220 0-Watt -Ionen-Föhn, die Saturn-Rakete unter den Haartrocknern, und schob den Regler an. Mit behutsamen Bürstenstrichen ging ich durch Rikkis Haar, und sie bewegte ihren Kopf in einer unwillkürlichen Gegenbewegung leicht nach vorn, während ich die Bürste zäh nach hinten zog. Langsam, Strich für Strich, verging der feuchte Glanz ihrer breiten Strähnen, einzelne Haare lösten sich heraus und tentakelten durch den Luftstrom. Und dann, als ich im Rauschen des Riesenföhns mit der Bürste vorsichtig über ihren Scheitel ging, geschah es. Rikki schloss die Augen, die Bewegung ihres Kopfes synchronisierte sich mit dem Gang der Bürste, und der schmale Strich ihrer Lippen wurde breiter und breiter. Kaum merklich rutschte sie tiefer in den Sitz und brummte etwas Wohliges vor sich hin. Ein Druckabfall ging durch den ganzen Raum. Ich erinnerte mich, und da fügte es sich zusammen: Nancys schräger Blick. Nergez’ Wangenflammen. Meine aufgedehnte Hüfte. Selbst Siegrun Wedemeyers breites Hin- und Herrutschen. Matzes Fäusterollen.Und Dorits unnachahmliche Art und Weise, zum Küssen von der Seite herumzukommen. Ich war der Sammler der Goldenen Momente. Einzigartig, unwiederholbar, unteilbar privat. In dieser Welt voller Look-alikes, Kopien und Standardreaktionen war kein Preis zu hoch, das zu erleben. Wenn man sehr großzügig war, konnte man es als Sinn des Lebens gelten lassen. Das musste ich mal Nancy erzählen.
    Rikkis Haare waren trocken und wallten um sie herum. Sie kam wieder zu sich. «Ach du Scheiße, wie sehe ich denn aus? Du hast mir eine Außenwelle geföhnt! Hoffentlich werde ich heute nicht verhaftet und fotografiert!»
    Die Dame mit den Alustreifen im zerrupften Haar sah so lange fasziniert auf Rikki, bis ihr die Zeitschrift vom Schoß rutschte. Dann fragte sie die Friseuse: «Machen Sie eigentlich auch Extensions?»
     
    Am Tag nach der größten politischen Tortenanschlagsserie in der Geschichte dieses Landes ging ich über den Ströhmplatz zum
Fitness- und Kampfsportstudio Niekisch/​Zentrum für Realistische Selbstverteidigung.
Der Kiosk in der Mitte des Platzes war verhängt mit Schlagzeilen und Fotos, die Werner Rosstäuscher und etliche seiner Minister in den verschiedensten Bekleckerungen zeigten. Dicke Lettern schrien: «Schmadder-Attentat!» Andere Schlagzeilen arbeiteten die möglichen Wortspiele ab: «Protest allererster Sahne», «Ministerpräsident Rosstäuscher verliert sein Gesicht – und zwar gleich sechs Mal», natürlich dann «Torte statt Worte» und so weiter. Ich hielt es nicht aus und kaufte mir die «Allgemeine», wo es die Torten bis in den Leitartikel geschafft hatten.
     
    Als gestern in der Messehalle 2 die Reinemachtrupps anrückten, um die Hinterlassenschaften dieser Torten-Massenhysterie fortzuschaffen, war auch dem Letzten klar, dass eine andere, neue Kultur des zivilen Widerstands auf den Plan getreten war. Wohl an die fünfzig mit Torten versehene Aktivisten hatten den Ministerpräsidenten und etliche seiner Kabinettsmitglieder umringt, bis durch das hektische Eingreifen des Personenschutzes das bedauerliche Chaos entstand, dessen Bilder gestern um die halbe Welt gingen.
     
    Froh faltete ich die Zeitung zusammen.
    Ich ging durch den Hausflur in den Hof wie immer. Doch das war das Letzte, was wie immer war. Als ich die Treppe zum Fitnessstudio
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