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Homicide

Homicide

Titel: Homicide
Autoren: David Simon
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müssten, als wüssten sie über alles Bescheid. Viele sind wie besessen davon, Skandale aufzudecken und menschliche Schwächen zu geißeln, statt die Menschen mit einem skeptischen, aber im Grunde wohlwollenden Blick zu betrachten. Ihre Arbeit ist sorgfältig und vertretbar – und nicht näher an der Wahrheit als jede andere Form von Erzählung.
    Vor Jahren las ich einmal ein Interview mit Richard Ben Cramer, in dem ihm von einem Journalistenkollegen vorgeworfen wurde, sich in für einen Journalisten unstatthafter Weise auf die Personen, über die er schrieb, einzulassen. Es ging um sein Buch
What It Takes
über die Kandidaten der Präsidentschaftswahl 1988, und die Frage lautete, ob er denn die Männer möge, über die er da geschrieben habe.
    »Ob ich sie mag?«, antwortete er. »Ich liebe sie.«
    Wie hätte er ihnen auch in einem Neunhundertseitenbuch eine Stimme geben können, wenn er sie nicht alle geliebt hätte, mit all ihren Falten und Warzen? Was wäre das denn für ein Journalismus, der Menschen jahrelang begleitet, ihre besten und ihre schlechtesten Augenblicke schildert, wenn er nicht zumindest im Ansatz ihre Individualität, ihre Würde, ihren Wert erkennen würde?
    Ich gebe es offen zu. Ich liebe diese Jungs.
    Während ich dies schreibe, ist Richard Fahlteich – 1988 Detective in Landsmans Team – noch Major und Chef des Morddezernats, möchte aber nach über dreißig Dienstjahren in einem Monat in den Ruhestand treten.
    Lieutenant Terrence Patrick McLarney, der vor fünfzehn Jahren einTeam in D’Addarios Einheit leitete, ist jetzt Schichtleiter. Er hat sich aus seinem Exil im Western und im Central District zurückgekämpft, in das er verbannt worden war, nachdem sein Chef höflich die Aufforderung zu einem Faustkampf in der Garage des Präsidiums zurückgewiesen hatte.
    Der Grund, warum McLarney das Bedürfnis hatte, eine solche Einladung auszusprechen, war schlichtweg der, dass sein Schichtleiter nicht mehr Gary D’Addario war, der erst zum Captain und später zum Major und Leiter des Northeastern District befördert wurde. Viele waren der Meinung, der Mann, der D’Addarios Posten übernahm, verstehe seine Leute nicht. Mit Gewissheit aber lässt sich sagen, dass er McLarney nicht verstand, der, trotz seiner aufbrausenden Art, seines kalkulierten Auftretens und seines allgemeinen Verhalten einer der klügsten, witzigsten und ehrlichsten Menschen ist, die ich je kennenlernen durfte.
    D’Addario war nicht nur ein erfolgreicher District Commander, sondern auch ein guter Fachberater für die Fernsehserie
Homicide
und die folgenden Produktionen. Mit seiner Rolle in der Serie als Lieutenant Jasper, Leiter der Bereitschaftspolizei, fand er nicht nur große Zustimmung, viele Untergebene, die selbst Einheiten leiteten, belehrten ihn auch, wie wichtig sein eigentlicher Beruf sei.
    Vor drei Jahren wurde er von heute auf morgen ohne Angabe von Gründen von einem Polizeichef entlassen. Der Mann zitierte ihn lediglich in sein Büro und händigte ihm das Kündigungsschreiben aus.
    Vielleicht ist es nicht unbedeutend, dass D’Addario wenige Tage zuvor erstmals einen kurzem Auftritt in
The Wire
hatte, und zwar als Anklagevertreter vor einer Grand Jury. Bekanntermaßen missfällt der gegenwärtigen Stadtverwaltung von Baltimore die HBO-Serie, und obwohl D’Addario nicht der einzige Veteran des Morddezernats war, der in einer Episode mitwirkte, so war er damals doch der Einzige, der eine leitende Funktion hatte. Ich schrieb einen Brief an den Bürgermeister, in dem ich erklärte, das, was D’Addario in der Szene sage, sei eine ganz neutrale Äußerung und schade dem Ruf des Morddezernats in keiner Weise. Wenn der Unmut über den Major auf dem Auftreten in der Serie beruhe, möge man sich die Entscheidung doch bitte noch einmal überlegen. Außerdem bat ich, uns auf die eine oder andere Weise mitzuteilen,wenn die Verwaltung Bedenken habe, dass Polizisten in der Serie mitspielten.
    Ich erhielt keine Antwort.
    Im Jahr 1995 ging Donald Worden nach über dreißig Jahren aus freien Stücken in den Ruhestand. Kevin Davis – der Worden in Stantons Schicht – hörte am selben Tag auf. Ich ließ es mir nicht nehmen, die beiden Veteranen bei ihrer letzten Schicht zu begleiten. Sie holten einen Verdächtigen aus dem Stadtgefängnis und versuchten vergebens, ihn zu einer Aussage über einen alten Mord zu bewegen. Diese Geschichte war mein letzter Beitrag als Journalist der
Baltimore Sun –
in gewissem Sinn eine Art
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