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Homicide

Homicide

Titel: Homicide
Autoren: David Simon
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die Wohnung durch die Eingangstür, dann verließ der Schwarze sie durch die Hintertür«, als ob sich der Schwarze plötzlich in einen Weißen oder in einen Purpurfarbenen verwandeln würde, wenn wir nicht alles genau beobachteten. Im Bewusstsein dieser Beschränktheit möchte ich schildern, wie ich David Simon in Erinnerung habe, als er vor fünfzehn Jahren bei uns war.
    Er war ein Weißer. Auf den ersten Blick erkannte man, dass niemand ihn jemals bitten würde, ihm mit Urin für einen Test auszuhelfen. Er behauptete,vor dem Praktikum bei uns als Zeitungsreporter gearbeitet zu haben, aber auch wenn ich ihn genauer betrachtete, konnte ich mich nicht erinnern, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Möglicherweise hatte er sich tatsächlich in der Stadt herumgetrieben. Man konnte ihn leicht übersehen. Er war von durchschnittlicher Größe und auch sonst von unauffälliger Statur. Aber eigentlich kann von Statur gar keine Rede sein. Sicher, er war ein körperliches Wesen, aber ihm fehlten Dinge, die man normalerweise mit einem Körper in Verbindung bringt, zum Beispiel Muskeln. Oder sie waren geschickt verborgen. Ich konnte nie begreifen, wie jemand mit so dürren Armchen den ganzen Tag mit einem Notizbuch in der einen und einem Stift in der anderen Hand herumlaufen konnte. Und dann sein Haar, mehr ein Flaum eigentlich und schon stark auf dem Weg, sich ganz aus dieser Welt zu verabschieden. Das ist inzwischen erledigt, und ein schimmernder Glatzkopf ist übrig geblieben. Am dichtesten ist noch das Haar der Augenbrauen. Und unter diesen Brauen liegt ein Augenpaar von undefinierbarer Farbe, zwischen Grün und Braun. Insgesamt ließe sich die Suchanzeige etwa so formulieren:
    »Weißer, eins siebzig, Glatze, schlecht gekleidet, wirkt verdutzt, riecht nach Bier, im Besitz eines zerfledderten Notizbuchs, zuletzt gesehen …«
    Eine der ergreifendsten Passagen in
Homicide
ist für mich die Szene, in der Donald Waltemeyer die Kleider einer an einer Überdosis gestorbenen Frau zurechtzupft, damit sie einen präsentablen Anblick bietet, wenn ihr Mann sie identifiziert. Dave nannte es einen »kleinen Akt von Barmherzigkeit«, und es war typisch Waltemeyer. Ich war lange Zeit Donalds Sergeant und habe ihn nie richtig verstanden, aber ich hatte großen Respekt vor ihm.
    Waltemeyer und ich fuhren zweimal zusammen nach Indiana aufs Land raus. Jemand hatte dort ein Feuer gelegt, in dem seine Freundin und ihre beiden kleinen Kinder umgekommen waren. Dann schlug er sich nach Baltimore durch, legte dort erneut ein Feuer, wurde geschnappt und erleichterte sein Gewissen, indem er seinem Zellengenosse, einem Transvestiten, auch das erste Verbrechen gestand. Der rief uns umgehend an. Für die Voranhörung nahmen wir den Flieger, doch als dann der eigentliche Prozess anstand, schlug Donald, ein bekennender Klaustrophobiker, vor, lieber mit dem Auto hinzufahren. Der Cadillac, den er dafür mietete, war pinkfarben, aber er behauptete, er sei weinrot.
    Als wir eines Morgens dort in Indiana in einem Diner saßen, kamen Einheimische an unseren Tisch, fragten uns, ob wir die Detectives aus Baltimore seien, und bedankten sich. Natürlich freute uns das, und Donald brachte strahlend seine Überraschung zum Ausdruck, dass man uns erkannte. Ich aber sah den Cadillac, der direkt vor dem Panoramafenster stand, und erinnerte Donald daran, dass wir uns in einem kleinen, spießigen Nest befänden, mit einem Transvestiten im Schlepptau, und in einem pinkfarbenen Cadillac herumkurvten. Er kaute nachdenklich und erwiderte: »Wenn ich’s dir doch sage, er ist weinrot.«
    Donalds Tod hat uns alle sehr betrübt.
    In den letzten fünfzehn Jahren hat sich unsere Arbeit in mancher Hinsicht verändert. Der sogenannte
CSI
-Effekt, also die Auswirkung der Darstellung der Ermittlungsarbeit in Krimis und Serien auf das öffentliche Bild von der Polizeiarbeit, hat die Erwartungen von Geschworenen und Richtern in unzumutbare Höhen getrieben und ist überall zum Fluch der Staatsanwälte geworden. Die Einschüchterung von Zeugen hat zugenommen, und die Kooperationsbereitschaft der Bürger ist zurückgegangen, was nicht überrascht. Gangs haben Baltimore für sich entdeckt. Das Drogenproblem ist keineswegs geringer geworden. Es gibt weniger Dunker und mehr Whodunits. Positiv ist hingegen, dass es humane Epithelzellen gibt (ich liebe dieses Wort). Sie tauchten vor ein paar Jahren urplötzlich auf wie eine Wunderdroge, ein Ergebnis der Fortschritte in der
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