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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond
Autoren: Jutta Wilke
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Fensterbank.
    Er hob die Hand und schlug zu.
    Niemand würde ihn jetzt noch aufhalten.
    Holzer schnippte das tote Tier auf den Fußboden, kehrte dem Fenster den Rücken zu und trat vor die Fotos an der Wand. Nachdenklich starrte er auf den Grundriss des Klosters, ließ seinen Blick über die Skizzen der Kreuzgänge wandern, sah den Kaisergarten vor sich und glaubte fast, das Läuten der Glocke zur Andacht zu hören. Da war es wieder, dieses Rauschen in seinem Kopf. Ihm wurde schwindelig und für einen kurzen Moment schloss er die Augen. Dieser Schwindel überfiel ihn in den letzten Tagen in immer kürzeren Abständen. Es wurde Zeit, die Sache zu Ende zu bringen.
    Holzer dachte an den Anruf zurück. Wie es aussah, hatte Wagner seine Tochter mit nach Wien gebracht. Ein kleines Mädchen war sicher kein Problem. Ganz im Gegensatz zu dem Jungen. Dauernd musste er seine Nase in Dinge stecken, die ihn nichts angingen. Mehr als einmal hatte er ihn schon im Kloster erwischt. Schlimm genug, dass der Kerl während der Schulzeit in seinem Geschichtsunterricht saß. Jetzt, in den Sommerferien, streunte er durch die Gegend wie ein räudiger Hund – und genauso lästig war er auch. In jeder anderen Zeit hätte er den Jungen längst beseitigt. Keiner hätte ihm auch nur eine Träne nachgeweint. Ein Kind ist verschwunden? Nun, vermutlich ist es in die Donau gefallen und ertrunken, oder Wegelagerer haben es auf dem Heimweg vom Markt überfallen, oder die Wölfe aus dem nahen Wald haben es verschleppt, oder es ist in eine Bärengrube gestürzt. Im 17. Jahrhundert gab es unzählige Gefahren, die aufzu neugierige Jungen lauerten. Aber heute konnte man ein Kind nicht einfach verschwinden lassen. Sofort wäre die Polizei alarmiert, und das war das Letzte, was er jetzt noch gebrauchen konnte.
    Holzer nahm sich vor, noch einmal mit dem Vater des Jungen zu reden. Von Lehrer zu Vater. Er würde dem Knaben Hausaufgaben für die Ferien aufbrummen, dass ihm Hören und Sehen verging. Flavio durfte einfach keine Zeit mehr haben, durch das Kloster zu schleichen. Dafür würde er sorgen. Und er war sich sicher, Flavios Vater würde ihn unterstützen.
    Holzer bückte sich nach einem Foto, das von der Wand gefallen war. Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete er es eine Weile, dann hängte er es wieder an seinen Platz.
    Die Schmerzen in seinem Kopf wurden abermals schlimmer. Fieberhafte Bilder breiteten sich dort aus, so sehr er sich auch dagegen wehrte.
    Er massierte seine Stirn mit zwei Fingern. Die Bilder quälten ihn weiter.
    Er ging zum Waschbecken und ließ kaltes Wasser in ein Glas laufen. Alles hatte sich verändert, selbst das Wasser schmeckte anders. Holzer zog ein Röhrchen aus der Innentasche seiner Jacke und schüttete eine Tablette in das Wasser. Sprudelnd löste sie sich auf. Er leerte das Glas in einem gierigen Zug und blickte dabei in den Spiegel. Zwei kalte blaue Augen starrten ihm entgegen. Holzer atmete tief aus.
    Er strich sich prüfend mit beiden Händen über die dunklen Haare, fuhr mit den Fingern den sorgfältig zu schmalen Linien rasierten Bart nach. An der Schläfe entdeckte er ein graues Haar und riss es aus. Sein Blick blieb an seiner rechten Hand hängen. Er starrte auf die Stelle, wo einst sein Ringfinger gewesen war. Das Rauschen in seinem Kopf wurde lauter, wurde zu Kampfgebrüll, durchdrungen von dem anhaltenden Dröhnen der Glocke, dem Alarm, der für viele zu spät gekommen war. Die Bilder überrollten ihn. Er sah Feuer. Männer, die über Wurzeln und Äste stolperten, die ihre Kutten zusammenrafften und den Berg hinaufrannten. Immer tiefer in den Wald. Hinter sich das Brüllen der Verfolger, nur übertönt von den verzweifelten Schreien der Brennenden. Holzer biss die Zähne zusammen, seine linke Hand krallte sich am Waschbecken fest, mit der rechten umklammerte er das Glas, bis es zersplitterte. In dünnen Rinnsalen lief das Blut aus seiner geschlossenen Faust. Irritiert betrachtete er einen Moment die tiefrote Flüssigkeit, die auf das weiße Porzellan tropfte, und presste dann die glühende Stirn gegen den kühlen Spiegel.
    Wenn er nur diese Bilder aus seinem Kopf verbannen könnte. Mit einem Stöhnen riss er sich von seinem Spiegelbild los. Die Welt bestand nur noch aus seinem Atem, laut, unregelmäßig, unkontrolliert. Er zwang sich zur Ruhe, wusch die verletzte Hand, umwickelte sie mit einem Taschentuch. Dann lehnte er sich an die Wand und wartete, bis sein Atem sich vollständig beruhigt hatte.
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