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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond
Autoren: Jutta Wilke
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so dicht an ihnen vorbei, dass er sie jeden Augenblick berühren musste. Sein Anhänger war mit meterlangen Baumstämmen beladen.
    »Verdammt!« Jan trat mit voller Kraft auf die Bremse. Die Reifen quietschten und der Bus geriet ins Schlingern. Hektisch kurbelte Jan am Lenkrad, versuchte, den Bus wieder zu stabilisieren. Metall schob sich über Metall und ein grässliches Kreischen und Quietschen dröhnte in ihren Ohren, als der Transporter den Bus weiter nach rechts drückte.
    Aus den Augenwinkeln sah Nele die steile Böschung wenige Zentimeter neben ihrem Fenster. Jan riss das Lenkrad wieder nach links, der Bus fing an zu schaukeln und schrammte an dem Hänger mit den Baumstämmen entlang. Mit einem Ächzen blieb er schließlich stehen. Langsam öffnete Nele die Augen und blickte in den Abgrund.
    Der Transporter war längst hinter der nächsten Biegung verschwunden.
    »Ich will hier raus.« Ihre Stimme war nur noch ein leises Wimmern.
    Jan stieß die Tür auf, zog Nele zu sich herüber und hob sie vorsichtig aus dem Auto.

3
    In Wien wurde es bereits dunkel, als im Büro von Dr. Holzer ein Handy klingelte.
    Das alte Haus, in dem der Historiker sein Büro hatte, stand dicht am Wiener Naschmarkt – so dicht, dass bei Tag die Stimmen der Händler bis zu ihm in den zweiten Stock hinaufreichten.
    Heute, am Sonntag, waren die Stände auf dem Markt geschlossen, die Tische der kleinen Lokale leer, die Stühle ordentlich übereinandergestapelt und angekettet. Nur einige Tauben und ein paar vorwitzige Spatzen suchten auf dem Kopfsteinpflaster nach den Resten der vergangenen Marktwoche.
    In dem großen Haus am Rand des Platzes spiegelte sich das letzte goldene Licht des Tages. Im zweiten Stock hielt eine manikürte Hand, deren Ringfinger fehlte, ein Telefon. »Ich habe verstanden. Danke.
    Warten Sie auf weitere Anweisungen.« Dr. Holzer steckte sein Handy wieder in die Jackentasche. »Verflucht!«
    Er musste sich beherrschen, um nicht laut loszubrüllen. Dieser Stümper war zu nichts zu gebrauchen. Da verließ er sich ein einziges Mal auf jemand anderes, statt es selbst zu erledigen, und das hatte er jetzt davon. Er würde diesem Idioten höchstpersönlich den Hals umdrehen, wenn er es wagen sollte, ihm noch einmal unter die Augen zu treten. Jetzt hieß es schnell handeln. Noch war nicht alles verloren, aber er musste sich etwas einfallen lassen, bevor dieser Deutsche ihm in die Quere kam.
    Mühsam beherrscht griff Holzer noch mal zum Handy und wählte die Privatnummer seiner Sekretärin.
    »Holzer hier. Hören Sie? Der deutsche Wissenschaftler, von dem wir gestern gesprochen haben, ist in Wien angekommen. Ja, richtig. Jan Wagner. Er ist in Mauerbach in der Pension Holle abgestiegen. Seine Handynummer hatte ich Ihnen gegeben? Gut. Vereinbaren Sie einen Termin mit ihm für morgen Vormittag. Ja. Ich hole ihn ab. Danke. Ach – und noch etwas. Sie können sich morgen freinehmen. Ich werde den ganzen Tag unterwegs sein. Bitte. Gerne.«
    Holzer legte auf und starrte eine Weile auf seinen Monitor. Dann schob er die Dokumente von seinem Schreibtisch zurück in die Schublade und schloss ab. Mit einem Klick löschte er den Internetverlauf. Es war besser, keine Spuren zu hinterlassen. Auch wenn kaum jemand Zutritt zu seinem Büro hatte, wollte er kein Risiko eingehen.
    Eine Fliege ließ sich auf dem Ärmel seines dunklen Anzugs nieder. Mit einer ärgerlichen Geste verscheuchte er das Tier und stand auf.
    Diesen Abend hatte er sich anders vorgestellt. Jetzt musste er seine Pläne ändern. Die Gefahr, in letzter Minute entdeckt zu werden, war einfach zu groß.
    Holzer ging zum Fenster und blickte nach draußen. Nachträglich beglückwünschte er sich zu der Idee, sein Büro hierher verlegt zu haben. Die Aussicht über den gesamten Bezirk war perfekt und bis zur Kirche war es nur ein Katzensprung. Mariahilfer Kirche. Er lachte trocken. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet die Mutter Gottes ihm helfen sollte, seinen Plan zu vollenden.
    Er war fast am Ziel. Diese eine Kirche noch und er hatte es geschafft.
    Wenn ihm nur nicht der unerwünschte Besuch aus Deutschland wertvolle Zeit kosten würde.
    Dieser dahergelaufene Wissenschaftler. Kirchenhistoriker! Was wusste der Mann schon von den Kirchen und den Geheimnissen, die sie bargen? Nichts. Im Vergleich zu ihm war Jan Wagner ein Stümper, ein Niemand, ein Wurm.
    Und wie einen Wurm würde er jeden zertreten, der sich ihm in den Weg stellte.
    Die Fliege landete auf der
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