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Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Titel: Die Kometenjäger: Roman (German Edition)
Autoren: Marc Deckert
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Sehen ist schwieriger als Glauben. Ohne meinen Freund Tom hätte ich das wohl nie begriffen, also muss ich ihm für etwas dankbar sein. Ich schätze, er selbst hatte gar nicht die Wahl. Natürlich musste er immer sehen , sonst hätte er ja einfach religiös werden können, anstatt mit den Augen versteckten Objekten in der Nacht hinterherzujagen. Es hätte für ihn einiges erleichtert und für mich auch, so viel ist sicher, aber erzählen müsste ich davon kaum. Es gibt ja ohnehin schon zu viele Geschichten über Leute, die einen Glauben finden.
    Tom verließ sich nur auf seine Augen, und das gerade zu den ungewöhnlichsten Zeiten. Fast niemand kannte sich im Dunkeln so gut aus wie er. Er war eigentlich ein Experte der Dunkelheit. Ohne ihn wäre mir zum Beispiel für immer verborgen geblieben, wie viele Phasen, Nuancen, Zwischenräume sie hat: Vom ersten Anflug der Dämmerung, wenn das Blau des Himmels seine Leuchtkraft verliert und zu einem fahleren Taubenblau wird, bis zu jenem Moment, in dem sich die letzten Konturen in der Nacht auflösen wie in einer undurchdringlichen Flüssigkeit. Ich hätte nie den Unterschied kennengelernt zwischen der »nautischen Dämmerung« – der Phase, in der das Meer am Horizont mit dem Himmel verschmilzt – und der »astronomischen Dämmerung«, dem letzten Übergang in die Nacht. Und erst recht hätte ich niemals erfahren, was wirklich danach kommt. Natürlich kommt die Nacht, so viel steht fest. Aber mir war nie klar gewesen, wie viele Möglichkeiten dieses eine Wort »Nacht« umfasst und wie viele Fragen erst der Satz »Es ist dunkel« aufwirft. Wie dunkel?, hätte Tom sofort gefragt. Von welcher Art Dunkelheit ist die Rede? Von der stumpfen, undurchdringlichen Dunkelheit der Hinterhöfe oder der Dunkelheit einer Winternacht in den Bergen? Von der safranfarbenen, glühenden Dunkelheit über der Großstadt oder der Dunkelheit einer Landstraße, dort, wo deine Autoscheinwerfer nicht hinreichen? Wie hell war das Mondlicht? Konntest du die Farbe Gelb noch erkennen? Gab es elektrisches Licht in der Nähe? Und wie sah der Himmel aus? Wie viele Sterne hast du gesehen?
    Ohne Toms Hilfe sollte ich mich lieber nicht weiter in dieses Territorium vorwagen. Nur kann ich nichts daran ändern: Jetzt wo er weg ist und mein Leben, vor allem nachts, wieder in etwas regelmäßigeren Bahnen verläuft, denke ich oft an diese Geschichte und an die vielen seltsamen Ereignisse, bei denen mir nur die Rolle des Beobachters zukam. Übrigens hatte auch Tom nur die Rolle des Beobachters. Er benutzte seine Augen, und ich schaute ihm dabei zu – ich vermute, das macht ihn trotzdem wichtiger als mich.



KAPITEL 1

    U nsere Geschichte begann auf einem Schiff. An jenem Abend im August lehnte ich an der Reling und sah zu, wie der Bug der »Herrsching« die silbrig-glatte Oberfläche des Ammersees zerschnitt. Es war einer der wenigen schönen Abende in einem verregneten Spätsommer, in dem es sich bis dahin kaum gelohnt hatte, die Stadt zu verlassen. Hinter den ansteigenden Hügeln des westlichen Seeufers hatte sich der Himmel purpurrot verfärbt. Die Tönung reichte bis hinauf in hohe Regionen, wo matt glühende, halb durchsichtige Wolkenstreifen das Blau durchzogen. Sie schwebten parallel über mir wie Rippen eines riesigen Brustkorbs.
    Wir machten gute Fahrt hin zur Mitte des Sees. Die undramatische Uferlandschaft mit ihren Schilfmatten, Holzschuppen, Ausflugslokalen und kleinen Marinas glitt in beruhigender Regelmäßigkeit vorüber. Ein paar Mückenschwärme flirrten noch über den Anlegestegen am Ostufer, vor denen Segelboote in den Wellen unseres Dampfers schaukelten. Die letzten Segler des Abends kamen gerade herein. Ein paar Knirpse von einer Segelschule winkten uns von ihren Nussschalen aus zu, immer paarweise. Ihre Schwimmwesten leuchteten in der Dämmerung, ein Schwarm phosphoreszierender Käfer in Signalorange.
    Das Schiff, ein hübscher älterer Dampfer mit weiß - blauem Schornstein und einer weiß - blau gestreiften Markise über dem Achterdeck, war an diesem Abend nur für unsere private Gesellschaft reserviert. Die meisten der lachenden und trinkenden Leute, die sich in Trauben über die Decks verteilten, kannte ich mindestens mein halbes Leben lang. Ein paar Ehemalige meines Jahrgangs und ich organisierten die jährliche Dampferfahrt nun schon zum neunten Mal, immer gegen Ende der Sommersemesterferien. Wir verschickten jedes Jahr Einladungen an den gleichen Mail-Verteiler, und jedes Jahr
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