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Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Die Kometenjäger: Roman (German Edition)

Titel: Die Kometenjäger: Roman (German Edition)
Autoren: Marc Deckert
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im Monat betrat, um im Bad eine Art Grundreinigung durchzuführen. Das Arbeitszimmer und den Schreibtisch tastete sie nicht an. Wäre ich ausgezogen, ich hätte mich nur verschlechtert.
    Sozialen Druck hatte ich nie gekannt. Mit den meisten Menschen meines Jahrgangs – oder sogar meiner Generation – verstand ich mich gut. Ich wurde auf die meisten Partys eingeladen. Ich fühlte mich wohl in der Stadt. Manchmal erkannte ich sogar einen eigenen Reiz darin, immer noch hier zu sein, den Status quo zu erhalten und diese merkwürdige kleine Welt am Auseinanderbrechen zu hindern, solange es möglich war. Eine Art Fin-de-Siècle-Stimmung hüllte mich ein, und ich ergab mich ihr, weil man darin so herrlich müde und erhaben aussah.
    Manchmal ging ich abends durch die Straßen meiner Stadt und sah mich selbst wie in einer filmischen Rückblende. Ich dachte dann daran, wie ich mich einmal an all das erinnern würde, obwohl ich ja immer noch hier war.
    Mit dem Herbst aber kündigte sich – ohne mein Zutun – eine Abwechslung an. Eines Abends saß ich mit meinem Freund Ulrich Holstein zusammen. Sein Vater Dr. Werner Holstein war Mitarbeiter des Wissenschaftsressorts einer großen Tageszeitung und schrieb nebenbei Sachbücher für Kinder. Es waren diese »Erklär mir dies, erklär mir das«-Bücher, von denen es mindestens viertausend Bände gab, gefüllt mit Wissen, das sich jeder in fünf Minuten selbst auf Wikipedia zusammenkopieren konnte. Dr. Holstein war bei seinen Themen nicht sehr wählerisch, er schrieb über so gut wie alles: Elektrizität, Dinosaurier, das Wetter oder Schnellzüge. Das nächste Buch, erzählte mir Ulrich, werde von Astronomie handeln, es werde nur noch ein Illustrator gesucht, denn der übliche Zeichner der Reihe sei ausgefallen.
    »Aha«, sagte ich und bestellte ein Bier.
    »Ausgefallen«, wiederholte Ulrich. »Der Zeichner.«
    Es dauerte etwas, bis ich schaltete.
    »Meinst du, ich könnte was für deinen Vater zeichnen?«
    Ulrich tat netterweise so, als verblüffte ihn meine Idee: »Na ja, weißt du, die lassen da meistens nur Profis ran, die so was schon tausendmal gemacht haben.«
    »Ich könnte deinem Vater ja mal ein paar Zeichnungen zeigen. Ich meine, ich habe so was schon tausendmal gemacht. Nur bisher für mich.«
    Überraschend kam Ulrichs Vater wirklich auf das Angebot zurück. Als ich Dr. Werner Holstein das nächste Mal über den Weg lief, stand er in kurzen Hosen in seinem Garten und blies mit einer dieser lärmenden Maschinen Laub durch die Gegend. Er rief mich zu sich und schlug mir vor, ihm ein paar Zeichnungen zur Probe anzufertigen. Er würde sie selbst begutachten. Versprechen könne er mir natürlich nichts. Man müsse prüfen, ob Text und Bild harmonierten und außerdem, ob der Stil zur Reihe passe. Und schließlich müsste man sich beim Honorar einigen, er kenne meine üblichen Sätze ja nicht.
    Mein Honorar? Vielleicht hielt er das alles für einen Witz. Auf jeden Fall legte ich mich ins Zeug wie ein Verrückter. Noch bevor ich die ersten Texte von Dr. Holstein geliefert bekam, begann ich ein bisschen herumzuspinnen. Ich nahm alle meine Kenntnisse über den Weltraum zusammen. Ich warf Sonnen mit eitel strahlenden Gesichtern aufs Papier, Monde, die beleidigt dreinschauten, weil sie mit Raketen beschossen wurden , und rasende Kometen, deren Kleidung hinten Feuer gefangen hatte. All das hatte wenig mit Astronomie zu tun, aber mir selbst gefiel es sehr gut. Und da ich nicht vorhatte, mich ernsthaft mit den Sternen zu beschäftigen, kam mir der Märchenstil sehr zupass.
    Die ersten Texte von Dr. Holstein holten mich sofort auf den Erdboden zurück. Sie schüchterten mich nicht nur ein, sie erschreckten mich. Sie waren weder klar noch inspirierend, und wie irgendein Kind all das verstehen sollte, wollte mir erst recht nicht in den Kopf. Holstein ratterte bloß Fakten herunter über elliptische Bahnen, Sonnendurchmesser, schwarze Löcher und Lichtgeschwindigkeit – er schien sein Buch für Kinder mit abgeschlossenem Physikstudium zu schreiben. Ich bekam allmählich eine Ahnung davon, wie die Arbeitsteilung an solchen Büchern üblicherweise funktionierte. Der Autor war nur für das Wissen zuständig. Den ganzen kreativen Part, also die Suche nach kindgerechten Bildern und Metaphern, überließ er anderen. Und so saß ich nicht nur morgens und nachmittags an meinem Zeichentisch und mühte mich ab, ich saß auch noch abends zu Hause und steckte den Kopf in astronomische Bücher. Die
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