Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond
Autoren: Jutta Wilke
Vom Netzwerk:
den Mauern hinaus in die Stadt getragen werden.
    Was hatte der Fremde hier mitten in der Nacht zu suchen? Johanna reckte sich ein bisschen, um ihn besser sehen zu können. Er schaute nicht nach rechts und nichtnach links, interessierte sich nicht für die Menschen, die hier lagen. Mit langen Schritten eilte er durch den Gang.
    In den Armen hielt er ein Bündel, das er fest an sich presste. Er bemerkte Johanna nicht, obwohl er so dicht an ihr vorbeilief, dass sie ihn hätte berühren können. Rasch drückte sie ihr Gesicht wieder tiefer in Samuels Locken und stellte sich schlafend.
    Da ließ sie ein plötzliches Poltern zusammenzucken. Der Fremde war über einen der Kranken am Rand des Ganges gestolpert und hatte sein Päckchen fallen gelassen. Etwas Glänzendes rollte über den Steinboden auf Johanna zu.
    Im sanften Licht des Vollmonds konnte sie einen goldenen Kelch erkennen, der genau vor ihr zum Liegen kam. Noch nie hatte sie etwas so Kostbares gesehen. Johanna schlug das Laken zurück. Sie musste den Kelch berühren. Sie musste wissen, wie er sich anfühlte. Langsam strich sie mit den Fingerkuppen über die glatten Steine, die in seinen Rand eingefasst waren, ertastete die feine Gravur, die sich wie eine Schlange darum wand.
    Der Blick des Fremden traf sie. Er hob den rechten Arm und streckte ihr seine Hand entgegen. Johanna zögerte. Der Mann trat einen Schritt auf sie zu. Er sprach kein Wort, aber Johanna wusste auch so, dass er ohne den Kelch nicht wieder gehen würde. Behutsam bettete sie Samuel auf das Lager, erhob sich und bewegte sich zögernd auf den Fremden zu. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie groß er war. Viel größer als alle Männer, die ihr bisher begegnetwaren. Fest umklammerte sie den Kelch und biss sich auf die Lippen. An der rechten Hand des Mannes fehlte ein Finger. Schnell reichte sie ihm das kostbare Gefäß.
    Der Fremde drehte sich augenblicklich um und ging auf den Altar zu. Dort berührte er das große Gemälde hinter dem Marmortisch – und verschwand.
    Augenblicklich löste sich Johanna aus ihrer Starre und rieb sich die Augen. Zuerst glaubte sie, das sich in den Kirchenfenstern brechende Mondlicht habe ihr einen Streich gespielt. Sie lief zum Altar und erwartete, den Fremden noch zu sehen. Aber es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Mit klopfendem Herzen erklomm Johanna die Stufen zu dem heiligen Tisch. Ehrfürchtig betrachtete sie das riesige Bild, befühlte vorsichtig das bemalte Leinen und tauchte ein in ein schwarzes Nichts.

1
Deutschland, Gegenwart
    Es war Sommer, als Jan die Tür hinter sich ins Schloss zog und das Haus für immer verließ.
    Wie ein Dieb schlich er sich schon im Morgengrauen aus ihrem gemeinsamen Leben.
    Im Kirschbaum stritten sich die Spatzen lauthals um die besten Plätze, die Sonne hatte eben erst begonnen, den Tau auf den Blättern zu trocknen.
    Nele legte die Stirn an die Fensterscheibe und blickte auf die Straße. Sie würde nie wieder Kirschen essen können, ohne an diesen Morgen zu denken.
    Unten vor ihrem Fenster stand Jan, ihr Vater. Sie sagte schon lange nicht mehr Mama und Papa zu ihren Eltern. Irgendwann war aus ihnen Lilli und Jan geworden.
    Jan schaute zu ihr hoch und winkte zum Abschied. Dann stieg er in seinen alten blauen Bus und fuhr davon.
    Nele fror. Es fühlte sich an, als ob nicht nur Jans Möbel, seine Bücher und Kleider mit dem Bus um die Ecke bogen, nein, es war, als ob auch ein Stück von ihr in Kisten verpackt worden wäre und sich nun immer weiter von ihr entfernte.
    »Bis bald«, hatte Jan gesagt und sie noch einmal in den Arm genommen. Bis bald. So, als ob er nur eben auf eine Dienstreise ginge oder auf seinen jährlichen Angeltrip. Aber sie wusste, dass Jan niemals zurückkommen würde. Nicht in dieses Haus, in dem sie so viele Jahre glücklich zusammengelebt hatten.
    Auch sie würde bald ausziehen. Lilli hatte eine kleinere Wohnung für sie beide gemietet.
    Nele zog sich die Kapuze des riesigen grauen Sweatshirts über den Kopf.
    Es war Jans Pullover. Sie hatte ihn heimlich aus einer der gepackten Kisten herausgenommen und unter ihrem Bett versteckt. Heute Morgen hatte sie ihn hervorgezogen und sich darin verkrochen. Wenn sie die Kapuze tief ins Gesicht schob und die Nase vorne in den Ausschnitt steckte, dann roch es nach Jan. Aber der Geruch würde verfliegen, sie konnte die Vergangenheit nicht festhalten.
    »Nele, bitte mach doch endlich die Tür auf!«
    Schon zum zweiten Mal stand Lilli heute vor ihrem Zimmer.
    Nele
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher