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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond
Autoren: Jutta Wilke
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antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen?
    »Nele, bitte! So geht das nicht weiter. Wir müssen reden!«
    Lilli klopfte schon wieder.
    »Verdammt, lass mich endlich in Ruhe. Ich will nicht mit dir reden!«
    Nele wandte sich vom Fenster ab und warf sich aufs Bett. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Wütend schlug sie mit den Fäusten auf das Kissen. Nur so konnte sie den Schmerz tief in sich drin aushalten.
    Dieser Tag war auf sie zugerollt wie eine Lawine. Am Anfang hatte sie noch geglaubt, dass ihre Eltern sich bald wieder vertragen würden. Aber dann hatte Jan angefangen, Zeitungsannoncen auszuschneiden und auf Wohnungssuche zu gehen. Schließlich war er fündig geworden und hatte begonnen, seine Sachen in Umzugskisten zu packen.
    Jeden Tag war das Haus ein bisschen leerer geworden, mit jeder gepackten Kiste hatte es sein Gesicht ein wenig mehr verändert. Da, wo Jans Sachen fehlten, wirkten die Räume wie ein Bild, in dem jemand herumradiert hatte.
    Nele ließ ihren Blick durch ihr Zimmer schweifen. Bald würde hier ein anderes Kind wohnen. Ob es Geschwister mitbrachte? Ob seine Eltern sich besser vertragen würden als Lilli und Jan?
    Sie seufzte. Ihr war kalt. Sie nahm die Wolldecke vom Bett und wickelte sich darin ein.
    Dann drehte sie den Schlüssel im Schloss, öffnete die Tür und ging nach unten.
    Lilli saß in der Küche und umklammerte mit beiden Händen eine Tasse. Ihre Mutter sah blass aus.
    »Na, Große, möchtest du mit mir frühstücken?«
    Nele griff nach einem Glas und goss Milch hinein.
    »Das ist Jans Platz!«, fauchte sie ihre Mutter an.
    Lilli hob erschrocken den Kopf. Ohne ein Wort zu sagen, stand sie auf, schob ihre Tasse ein Stückchen weiter und setzte sich auf den nächsten Stuhl.
    Nele ließ sich ihr gegenüber nieder und nippte an ihrer Milch. Sie wusste, dass sie gemein war. Aber sie konnte nicht anders.
    »Du siehst gemütlich aus mit deiner Decke.«
    Nele verdrehte die Augen. Sie hasste es, wenn Erwachsene auch in Momenten, in denen es gar nichts zu sagen gab, irgendwas daherreden mussten.
    »Ich weiß, dass es dir nicht gut geht. Aber schau, schon in einer Woche holt Jan dich ab und du lernst seine neue Wohnung kennen.« Lilli trank einen Schluck Kaffee.
    Nele wusste nichts darauf zu sagen. So hatten sie es vereinbart, ja. Jan würde ausziehen, sich ein paar Tage lang in seiner neuen Wohnung einrichten und dann würde sie ihn besuchen. Schließlich waren Sommerferien. Und Nele wollte doch sicher sehen, wie Jan jetzt lebte.
    Wollte sie das wirklich? Sie starrte auf den Platz, auf dem er beim Frühstück immer gesessen hatte. Sie wollte, dass er wieder hier wohnte, dass er da saß, wo er immer gesessen hatte. Sonst nichts.
    Das Telefon klingelte.
    Nele nippte wieder an ihrer Milch und wartete. Lilli starrte in ihren Kaffee. Aber das Telefon klingelte unbeeindrucktweiter, sodass Lilli schließlich fluchend ihre Tasse absetzte und in den Flur ging.
    »Ja bitte?«
    Pause.
    »Was soll das heißen, du musst weg? Wie lange denn? Und warum konntest du das nicht schon vorhin sagen?« Lillis Stimme wurde lauter. »Was ist mit Nele?«
    Als sie ihren Namen hörte, stand Nele auf und ging langsam in Richtung Flur.
    »Soll ich dir mal was sagen? All die Jahre hindurch war dir dein Beruf wichtiger als alles andere. Nun hast du einmal die Chance, mit deiner Tochter zwei Wochen allein Urlaub zu machen, und schon wieder soll sie hinter deinem Job zurückstehen?« Lilli schrie jetzt und Nele zuckte zusammen. »Komm her und sag es ihr selbst. Wenigstens so viel Mumm solltest du haben, findest du nicht?« Lilli knallte das Telefon auf die Kommode und drehte sich um. Nele stand in der offenen Küchentür und starrte sie an.
    »Was ist los?«
    »Nichts, gar nichts.« Ihre Mutter strich sich durch die Haare und wich ihrem Blick aus.
    »Ihr habt euch wieder gestritten. Ihr habt wegen mir gestritten. Was ist passiert?«
    »Es ist nichts, Nele. Wirklich nicht.« Lilli wandte sich ab und lief ins Bad.
    »Gar nichts?« Nele folgte ihr. Vor der verschlossenen Badezimmertür blieb sie stehen. »Was soll er mir selbst sagen? Und was ist mit seinem Job?«
    Sie hörte, wie im Bad die Dusche anging. Ihre Mutter antwortete ihr nicht. Wütend trat Nele gegen die Tür. Sie musste hier raus. Sie stürzte den Flur entlang und wischte im Vorbeirennen das Telefon von der Kommode, das krachend auf den Fliesen aufschlug.
    Sie riss die Tür auf und trat in den Garten. Der Morgen war noch kühl, irgendwo zwitscherte
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