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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond
Autoren: Jutta Wilke
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ergriff sie wortlos. Sie war zu kaputt, um etwas zu sagen.
    »Hallo, Jan! Ich bin froh, dass ihr heil angekommen seid.« Zu Neles Überraschung begrüßte Viviane ihren Vater wie einen alten Bekannten und drückte ihm rechts und links einen Kuss auf die Wangen.
    »Guten Abend, Viviane!« Jan schob Nele ins Innere des Hauses. »Ich bin auch froh. Es tut gut, mal wieder hier zu sein. Meine Tochter war ja nicht angemeldet. Schön, dass du trotzdem ein Bett für sie frei hast.« Jan hatte Viviane kurz über sein Handy angerufen und angekündigt, dass er nicht allein war.
    »Papperlapapp, angemeldet. Ich freue mich doch, sie endlich kennenzulernen. Aber ich glaube, das verschieben wir besser auf morgen. Komm, Nele, ich zeige dir dein Zimmer, du siehst aus, als ob du gleich umfällst vor Müdigkeit.Dein Abendessen kann Flavio dir später bringen, wenn du dich ein bisschen ausgeruht hast.«
    Viviane nahm Nele bei der Hand und führte sie die schmale Holztreppe nach oben.
    Nele stolperte hinter Viviane her in den ersten Stock. Am Ende der Treppe öffnete sich ein langer schmaler Flur. Überall auf dem Boden lagen bunte Flickenteppiche. Die Holzdielen knarrten bei jedem Schritt. So etwas wie die Wände des Flures hatte Nele noch nie gesehen. Sie waren über und über mit Pflanzen, Insekten und Vögeln bedeckt, die jemand direkt darauf gemalt hatte. Nele entdeckte Mohnblumen und Wiesenschaumkraut, Butterblumen und wilde Rosen. Schmetterlinge in allen Farben tummelten sich zwischen den Blüten, und an den Stängeln krabbelten schillernde Käfer und winzige Spinnen, als suchten sie Schutz vor den Vögeln, die lebensecht von den Wänden herabblickten, als könnten sie jederzeit davonfliegen. Inmitten der Blumen, Gräser und Vögel versteckten sich die Türen zu den einzelnen Zimmern der Pension. Vor blauem Hintergrund zeigten sich riesige Bäume. Diese wirkten so real, dass Nele fast glaubte, das Rauschen der Blätter zu hören.
    Vor dem Bild einer Trauerweide blieb Viviane stehen. »Hier ist dein Reich. Wenn du deinen Vater suchst, klopf an die Tür mit dem Ahorn. Flavio wohnt im Apfelbaumzimmer.« Viviane drückte die Klinke herunter und bedeutete Nele einzutreten.
    *
    Nele wusste nicht, was sie geweckt hatte. Ein leises Klopfen oder das Knurren ihres Magens. Als sie sich verschlafen aufsetzte, stand ein schlaksiger Junge vor ihr, nur wenig älter als sie selbst, und balancierte mit beiden Händen ein Tablett.
    »
Buona sera, signorina
.« Grinsend stellte er das Tablett auf ihr Bett. »Ihr Abendessen. Ein Service des Hauses. Die Rechnung geht selbstverständlich auf uns.«
    Das musste dieser Flavio sein, von dem Viviane gesprochen hatte. Nele rieb sich die Augen.
    Der Junge hatte sich ein buntes Küchenhandtuch über den Unterarm drapiert und deutete eine leichte Verbeugung an.
    Nele zog schnell die Bettdecke über ihre nackten Beine. Warum hatte sie nur vergessen, sich einen Pyjama einzupacken?
    »Dein Vater sagt, du hast den ganzen Tag nichts gegessen. Hast du keinen Hunger?« Flavio ließ sich im Schneidersitz am Fußende von Neles Bett nieder und schnappte sich eine Weintraube vom Tablett.
    Doch. Sie hatte sogar großen Hunger. Aber die Anwesenheit des Jungen verunsicherte sie. Dass er sich auch noch mit Jan unterhalten hatte, machte es nicht besser. Was hatte ihr Vater Flavio wohl sonst noch über sie erzählt? Dass sie von zu Hause abgehauen war? Dass sie einfach davongelaufen war wie ein kleines Kind? Sie zog dieBeine dicht an den Körper und versuchte, sich in ihrem riesigen grauen Kapuzenpulli zu verkriechen.
    »Ich darf nicht gehen, bevor du alles aufgegessen hast. Das ist ein Befehl von ganz oben.« Flavio schob das Tablett auffordernd ein Stückchen in ihre Richtung.
    »Von ganz oben?« Nele blickte auf. »Hat Jan das gesagt?«
    »Jan? Nein, der hat hier nix zu sagen.« Flavio grinste schon wieder. »Hier ist das Reich der Frau Holle.«
    »Frau Holle?«
    »Na ja, eigentlich heißt sie Viviane. Aber ich nenne sie manchmal Frau Holle. Ihre Pension heißt doch auch so: Pension Holle. Und sie benimmt sich genau wie Frau Holle.«
    »Ehrlich? Du meinst, sie schüttelt die Betten aus und dann schneit es?«
    »
Ma no!
Schneien lässt sie es nicht. Aber mit Pech kann sie ordentlich um sich schmeißen, wenn sie sauer ist.« Flavio verzog das Gesicht. »Also iss jetzt besser.«
    Nele brauchte eigentlich gar keine Aufforderung mehr. Der Hunger hatte schon längst über ihre Verlegenheit gesiegt. Sie betrachtete das Angebot auf
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