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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond
Autoren: Jutta Wilke
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Esmachte ihm Sorgen, dass er die Anfälle nicht mehr unter Kontrolle hatte. Anfangs waren sie nur selten gekommen und immer sehr kurz gewesen, doch in den letzten Wochen waren sie häufiger und stärker geworden. Seine Zeit lief ab, das Ultimatum rückte näher.
    Holzer atmete jetzt wieder gleichmäßig und kontrolliert.
    Er ließ seinen Blick über das Bücherregal wandern, das die gesamte Wand einnahm. Die Menschen waren dumm, so dumm. Da trauerten sie um die alten Handschriften der Mönche, weil sie glaubten, dass die Bücher Opfer des verheerenden Brandes geworden waren. Dabei standen fast all diese kostbaren Werke hier in seinem Büro und warteten auf ihre wahre Bestimmung. Nur er kannte die wirkliche Bedeutung der meisten Texte.
    Damals, als die Männer ihn nach dem Tod seiner Eltern in das Kloster gebracht hatten, hatte er sie verflucht. Er hasste Gott.
    Gott hatte ihm seine Mutter und seinen Vater genommen, innerhalb einer Woche waren sie beide an dieser schrecklichen Seuche gestorben. Gott hatte sein Weinen und Betteln nicht erhört. Er hatte ihn ausgelacht. Sein Sohn hatte ihn vom Kreuz herab geringschätzig belächelt, als er auf Knien davorgelegen und um das Leben seiner Eltern gefleht hatte.
    Seine einzigen Verwandten hatten selbst sieben Mäuler zu stopfen gehabt und ihn nicht mit durchfüttern können. So war er bei den Mönchen in der Kartause geblieben.Ausgerechnet bei den Männern Gottes, denen er lebenslange Rache geschworen hatte.
    Oh ja, er wollte den Tod seiner Eltern rächen. Gott würde es noch bitter bereuen, dass er sich ihn zum Gegner gemacht hatte.
    Schon früh hatte er begriffen, dass das, was er von den frommen Brüdern lernen konnte, ihm für seine Zwecke von großem Nutzen sein würde.
    Er lernte Lesen und Schreiben, er lernte Hebräisch, Griechisch, Latein. Er studierte die alten Schriften tagein, tagaus. Er suchte nach einem Weg der Rache, der Vergeltung. Bald kannte er die Bücher und Schriftrollen besser als jeder andere im Kloster, und die Mönche kamen zu ihm, wenn sie Auskunft zu einem bestimmten Buch brauchten oder Rat bei der Übersetzung eines Textes.
    Sie ahnten nicht, dass sich hinter dem sprachlich so begabten Jungen in Wirklichkeit der ärgste Feind ihres Gottes verbarg.
    Er war dazu auserwählt, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen. Was war der Verlust eines Fingers gegenüber dieser Aufgabe? Sein Atem wurde ruhiger, das Ziel lag wieder klar vor ihm. Fast zärtlich ließ er seine Hand über die alten Buchrücken gleiten. Fühlte mit den Fingern die goldenen Intarsien nach, murmelte die griechischen und lateinischen Titel wie beruhigende Formeln.
    Er straffte die Schultern und ging zu der gläsernen Vitrine, die den Mittelpunkt des Raumes bildete. Vorsichtig hob er das schwarze Tuch an, mit dem das in der Vitrineausgestellte Pergament vor Licht geschützt wurde. Ein letzter Strahl der untergehenden Sonne brach sich in dem Diamanten auf seinem Fingernagel. Das Pergament unter seinen Händen schien in Flammen zu stehen.

4
    Es wurde schon dunkel, als Jan den Bus parkte und Nele behutsam weckte.
    »Aufwachen, Süße, wir sind da.«
    Nele schaute hinaus und atmete tief ein. Sie standen vor einem kleinen Haus, an dessen Wänden Rosen um die Wette kletterten. Ihr Duft erfüllte die warme Sommernacht mit Erinnerungen an einen anderen Garten in einer anderen Zeit. Das Dach zog sich wie ein alter Hut tief über die schmalen Fenster, hinter deren Scheiben kleine Lampen leuchteten. Dutzende von brennenden Kerzen steckten in Windlichtern und säumten den schmalen Weg zur Haustür. Der Kies knirschte unter ihren Füßen.
    »Du musst Nele sein. Ich bin Viviane. Komm rein. Du bist bestimmt todmüde nach der langen Fahrt.«
    Nele zwang sich, die Fremde nicht anzustarren. Rote Wuschellocken umrahmten ihr Gesicht, hier und dablitzten silberne Strähnen. Kleine Lachfältchen betonten die blauen Augen. Am ungewöhnlichsten war ihre Kleidung. Ein langer weinroter Rock fiel schwer bis fast auf den Boden, darunter lugten nackte Füße hervor. Zu dem Rock trug sie eine helle Bluse mit weit ausgestellten Ärmeln. Darüber eine Weste aus weichem Leder, die mit allerlei Holzknöpfen, bunten Bändern und Vogelfedern geschmückt war. Auch in den Locken steckten Vogelfedern, so willkürlich verteilt, als ob ein kleiner Vogel in den Haaren sein Nest gebaut hätte. An den Handgelenken glitzerten bunte Glasperlen und kleine Glöckchen klingelten, als die Fremde ihr die Hand entgegenstreckte.
    Nele
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