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Holundermond

Holundermond

Titel: Holundermond
Autoren: Jutta Wilke
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dem Tablett. Da gab es kleine belegte Brötchen, einen Teller mit aufgeschnittenen Äpfeln und Weintrauben, ein Stückchen Kuchen und eine große Tasse.
    Sie griff danach und schnupperte am dampfenden Inhalt. »Was ist das? Tee?« Nele atmete den Duft ein und nippte an dem heißen Getränk.
    »Eine Spezialität von Frau Holle. Heißer Holundersaft.« Flavio schnappte sich noch eine Weintraube. »Ich finde es echt toll, dass du mit deinem Vater hergekommen bist. Sonst sind die Sommerferien hier immer so schrecklich langweilig.«
    »Wohnst du denn auch in der Pension?« Nele stopfte sich eins der kleinen Brötchen in den Mund.
    »Nur während der Saison.« Flavio nahm sich auch ein Brötchen. »Mit meinem Vater. Der ist aber den ganzen Tag drüben im Kloster. Da hat er ein Eiscafé.«
    »Ein Eiscafé in einem Kloster?«
    »Es war mal ein Kloster. Jetzt ist es ein Museum. Morgen, wenn es hell ist, zeige ich es dir.«
    »Und deine Mutter, lebt die auch hier?«
    Flavio schüttelte den Kopf. »Sie ist gestorben, als ich noch ganz klein war.«
    »Oh, das tut mir leid.« Nele schwieg.
    »Das muss dir nicht leidtun. Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern. Sie fehlt mir nicht.«
    Nele versuchte, sich ein Leben ohne Lilli vorzustellen. Es ging nicht. Auch wenn Lilli im Moment weit weg war, war es doch ein tröstlicher Gedanke, dass es sie gab.
    »Als dein Vater das letzte Mal hier war, habe ich ihn durch das ganze Kloster geführt. Wenn du willst, zeige ich dir auch alles. Ich kenne jeden Winkel.«
    Nele biss sich auf die Lippen. Also stimmte es. Jan war schon hier gewesen, hatte diese Reise aber aus irgendeinem Grund nie erwähnt.
    Ein Gedanke schlich sich in ihren Kopf. War Viviane der Grund für Jans Heimlichkeiten? Vielleicht war Jan gar nicht wegen eines Kunstraubs nach Wien gefahren. Vielleicht war er wegen Viviane hier. Vielleicht war der Kunstraub nur ein Vorwand gewesen, ein Vorwand für sie und für Lilli. Das würde auch erklären, warum er sich so hartnäckig geweigert hatte, sie mitzunehmen.
    »Ich bringe das Tablett zurück.« Sie konnte nicht länger im Bett bleiben.
    »Bist du denn schon satt?«
    »Ja, bin ich«, log Nele.
    Sie zögerte einen Moment, dann zog sie jedoch ihre nackten Beine unter der Decke hervor, sprang aus dem Bett und schlüpfte in ihre Jeans. Flavio pfiff durch die Zähne.
    »Blödmann.« Nele griff nach dem Tablett und ging zur Tür. »He, warte.
Un momento
.« Schnell nahm sich Flavio noch zwei von den kleinen Brötchen und stopfte sich einen Apfelschnitz in den Mund.
    »Danke für den Saft, das tut gut.« Jan stellte die dampfende Tasse vorsichtig zurück auf den alten Küchentisch und griff nach einem Zettel.
    »Was ist mit dir und Lilli?« Viviane zündete eine Kerze an und stellte sie ins Fenster. »Euer Gespräch gerade klang nicht sehr freundlich.«
    Jan seufzte. »Ich bin ausgezogen. Wir leben in verschiedenen Welten. Lilli hat meine Welt nie verstanden und ichihre nicht. Gäbe es Nele nicht, wäre ich schon viel früher gegangen.«
    Nele war sich nicht sicher, ob sie das überhaupt hören wollte. Trotzdem blieb sie in der offenen Tür stehen. Weder ihr Vater noch Viviane hatten sie bemerkt.
    »Der Unfall …« Viviane hatte sich wieder Jan zugewandt.
    »Ich bin mir ziemlich sicher«, fiel Jan ihr ins Wort, »dass das kein Unfall war. Da wollte jemand verhindern, dass ich nach Wien komme.« Er zerknüllte den Zettel in seiner Hand.
    »Es geht nicht einfach nur um Kirchendiebstähle, oder?«
    »Nein«, seufzte Jan.
    »Was wirst du tun?«
    »Mich erst mal mit meinem österreichischen Kollegen Stephan Holzer treffen und hören, was er zu sagen hat. Seine Sekretärin hat morgen früh einen Termin mit mir vereinbart. Holzer wird mich abholen.«
    Viviane legte ihm die Hand auf den Arm. »Bitte pass auf dich auf.«
    Nele hielt die Luft an. Was erzählte Jan da? Der Unfall war gar kein Unfall gewesen? Jemand wollte nicht, dass Jan nach Wien kam?
    »Wie viel hast du deiner Tochter erzählt?«
    »Nele weiß nur, dass ich bei der Aufklärung der Diebstähle helfen soll. Das reicht. Und ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, sie wäre gar nicht hier.«
    Viviane lächelte ihn an. »Es ist gut so, wie es ist. Flavio kann sich um sie kümmern. Mach dir keine Sorgen.«
    »Vermutlich ist der Dieb kein gewöhnlicher Dieb. Es könnte gefährlich werden. Sehr gefährlich.«
    Nele hörte die Besorgnis in Jans Stimme und bereute sofort, gelauscht zu haben. Sie sollte besser wieder zurück in ihr Zimmer
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