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Hoerig

Hoerig

Titel: Hoerig
Autoren: Nelly Arcan
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Homosexuellen jedes Jahr in den Straßen von Montreal ihre Schwänze spazieren fahren, die Liebe zeigt sich um drei Uhr früh auf dem Klo einer Bar, Buddhisten lieben sogar das Ungeziefer, Liebessüchtige sieht man jeden Tag im Fernsehen, und selbst bei den Toten, die Seite an Seite auf den Friedhö-
    fen liegen, kann man Liebe finden.

    Trotz deines französischen Akzents hast du quebecischer gesprochen als die Quebecer, du bist nicht hier geboren und mußtest dich nie dafür schämen. Die Verachtung der englischen Mehrheit und der Spott der »Franzosen aus Frankreich«, wie man hier sagt, um die Distanz zu ver-doppeln und den Franzosen die Hoheit über das Französische zu lassen, blieben für dich abstrakt. Du konntest ja jederzeit in dein Heimatland zurückkehren, deshalb mochtest du Quebec.
    Du sprachst meine Sprache, wohl wissend, daß die Schmach der Kolonisierten dich nicht betraf, wohl wissend, daß die Assimilation nie die tieferen Schichten deiner Persönlichkeit erreichen würde und daß deine Herkunft dich vor dem Bedürfnis nach Anerkennung bewahrte. Du sagtest »plotte«, »slut«, »slack«, »fun«,
    »pitoune«, du brachtest mir all diese Wörter zurück, die ich jahrelang zu verlernen suchte, du sagtest auch »meine Blonde« statt Freundin oder Schatz. Ich habe nie eine Erklärung dafür gefunden, warum man in Quebec »meine Blonde« sagt statt »meine Freundin«, sicher gab es mal eine Zeit, wo man Blondinen für besser hielt als Brünette, so wie man Weiße für besser hielt als Schwarze, Asiatinnen, Indianerinnen, also alle anderen. Ob sich in Quebec einmal alle Blondinen die Haare braun färben werden, weil die Quebecer einsehen, daß die Brünetten oft hübscher sind, und es satt haben, die Frau, die sie lieben,
    »meine Blonde« zu nennen? Die Haare sollen ja sogar nach dem Tod noch weiter wachsen, behauptet jedenfalls der Herrenfriseur in The Man Who Wasn’t There, anscheinend dauert es eine Weile, bis sie begreifen, daß sie zu einer Leiche gehören. Mein Großvater sagte, daß die Seelen nach dem Tod nicht immer gleich den Körper verlassen, weil Gott manchmal nicht genau weiß, was er mit ihnen anfangen soll, er braucht etwas Zeit zu überlegen und stockt manchmal angesichts der Schwierigkeit, ein Urteil zu fällen über die Schuld eines Menschen auf Erden.
    Du warst mit einer hübschen Brünetten im Nova, Annie, ich war mit einem blonden DJ unterwegs, mit DJ
    Adam, den du nicht leiden konntest, weil Nadine etwas mit ihm gehabt hatte und weil er größer war als du.
    Sicher hat mich Adam an diesem Abend noch interessanter für dich gemacht, er war ein fast unschlagbarer Riva-le, denn Frauen, vor allem die vom Plateau Mont-Royal, finden DJs im Grunde ihres Herzens viel besser als Journalisten, das hat mit ihrer Sichtbarkeit zu tun, mit den bewundernden Blicken der Groupies. An diesem Abend hast du zu mir gesagt, du kannst Annie eigentlich gar nicht betrügen, weil sie nicht deine Blonde ist. Etwas später hast du zu mir gesagt, Annie sei das Gegenteil von Nadine, Nadine nämlich habe ihre Gunst seit jeher gerecht auf mehrere Männer verteilt, das sei reine Nym-phomanie, das einzige, worauf es ihr ankomme, sei die Überraschung durch einen neuen Schwanz im Bett, Annie dagegen habe dich abgöttisch geliebt, du hättest der Mann ihres Lebens sein können, wenn du gewollt hättest. Annie sei mehr der Aschenputteltyp, sie sei in den drei Jahren eures Zusammenseins regelmäßig zu-sammengebrochen, wenn sie erfahren habe, daß du dich mit einer andern trafst. Da hätte ich begreifen müssen, daß du von mir gesprochen hast, daß ich dich mit abgöttischer Liebe in die Arme der anderen treiben würde, ich hätte hören müssen, daß du mir an diesem Abend die Zukunft vorhergesagt hast, genauer als die Karten meiner Tante es je vermochten, ich hätte wissen müssen, daß die Liebe für dich aus jeder Frau ein braves Mädchen macht, ein angepaßtes Weibchen, dem du vom unwiderstehli-chen Reiz fremder Frauen erzählen kannst, du hast mir schon damals den Weg gewiesen, dich zu verlieren.

    *

    Zwei Wochen nach dem Nova sind wir in die Cantons de l’Est gefahren, wo mein Großvater ein Chalet besaß, das er mir vererbt hat. Auf der Autobahn Nr. 10 haben wir zweimal gehalten, um zu ficken, wir hatten das Dach meines New Beatle geöffnet, um es uns bequemer zu machen. Ich saß auf dir und sah besorgt die Autofahrer vorbeirasen, die womöglich, von meinem periodisch auftauchenden Kopf irritiert, ihr
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