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Hoellenfeuer

Hoellenfeuer

Titel: Hoellenfeuer
Autoren: Peter Conrad
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der sich ihm bot, war so ungewöhnlich und schön, dass ihm vor Freude Tränen in die Augen traten.
    Im Zentrum des Lichts stand ein Wesen, wie Niklas noch nie eines gesehen hatte und dennoch glaubte er zu wissen, worum es sich handelte. Das Wesen hatte die Gestalt eines Menschen, eines großen Mannes von unvergleichlicher Schönheit. Und es besaß Flügel. Riesige Flügel, zu groß, um sie in der engen Gasse ganz entfalten zu können. Es waren die Flügel eines Adlers oder eines anderen Raubvogels wie es schien, doch waren sie auf die Proportionen des menschlichen Körpers angepasst. Sie wirkten gewaltig. Genaueres ließ sich durch das strahlende Licht nicht erkennen, doch Niklas war sich sicher, einen Engel vor sich zu haben.
    „Hast du deine Angst nun verloren?“, fragte das Wesen.
    Niklas nickte stumm, unfähig, diesen Augenblick durch seine Stimme zu entweihen.
    „Du sollst wissen, dass ich nicht der bin, für den du mich hältst “, sagte das geflügelte Wesen.
    ‚ Wer bist du‘, dachte Niklas. Doch die Worte verließen seinen Mund nicht.
    Der Engel legte den Kopf schief als hätte er die Worte dennoch vernommen. Dann trat er auf den noch immer am Boden knienden Niklas zu und sank zu ihm hinab. In einer unendlich zärtlich erscheinenden Geste legte er seine Flügel schützend um den Jungen und sagte: „Ich bin Satan!“
     
    …
     
    Eleanor starrte an die Wand. Eine weißgetünchte kalte Wand, wie es sie zu Hunderten in dieser Anstalt geben musste. Trostlos und seelenlos. Eleanor hasste diesen Ort. Der Regen prasselte schräg gegen die vergitterten Fenster und lief rauschend die Regenrohre der Anstalt herab. Heute schien das Wetter ein Sinnbild für Eleanors Seelenleben zu sein, ein Spiegel ihrer selbst. Einzig die Neonröhre am Waschbecken strahlte im trüben Zwielicht dieses Tages ihr kaltes und unfreundliches Licht aus, doch Eleanor verkroch sich im Schutze der Dunkelheit dieses Zimmers und sperrte die Welt so gut es irgend ging aus ihren Gedanken aus.
    Es war erst später Nachmittag, vielleicht 16.00 Uhr, aber gleich würde sich die Tür öffnen und einer der Pfleger würde den Raum betreten. Dann würde sie wieder zu Dr. Marcus gebracht werden. Diesem Spinner, der hier die Therapien festsetzte.
    Sicher, Dr. Marcus bemühte sich stets, freundlich und nett zu sein. Er hatte gewiss die besten Absichten, aber Eleanor hasste ihn dafür, dass sie an diesem Ort sein musste.
    Eine Woche war es nun her, dass man sie hierher gebracht hatte. Und die Bilder und Gefühle, die am Tag ihrer Ankunft in der Klinik auf sie eingestürmt waren, ließen sie noch immer nicht los. Ihr Onkel Max hatte sie hierher gefahren. Den weitaus größten Teil der Fahrt hatten sie schweigend zurückgelegt, denn keiner hatte etwas zu sagen gewusst, das in dieser Situation nicht hohl und leer geklungen hätte. Der schwere Toyota-Geländewagen hatte die Fahrt von London nach Stratton in weniger als viereinhalb Stunden geschafft. Nachdem sie schließlich die Autobahn verlassen und eine Weile durch ländliche Gebiete gefahren waren, kamen sie durch ein größeres Waldgebiet. Finstere Tannen standen hier und ließen das Sonnenlicht nur in vereinzelten Lichtkegeln hinab zum grünen Waldboden. Auch die schmale Landstraße, die sie entlanggefahren waren, lag trotz des Tageslichts in der Dunkelheit des Waldes und Eleanors Onkel schaltete die Scheinwerfer ein, um besser sehen zu können. Ganz plötzlich wichen die Bäume zurück und gaben den Blick frei auf eine grüne, hügelige Landschaft, in deren Mitte sie das Anwesen von Stratton Hall thronen sahen. Die Nervenheilanstalt lag auf einem bewaldeten Hügel, eindrucksvoll und majestätisch. Es handelte sich um ein großes viktorianisches Herrenhaus mit Säulen vor dem Haupteingang und zahlreichen Erkern, Schornsteinen und gotisch anmutenden Fensterverzierungen.
    ‚Mein Gott, Hill House‘, durchzuckte es Eleanor beim Anblick des riesigen, alten Gemäuers. Ein Geisterhaus wie es im Buche stand. Finster, verwinkelt, unüberschaubar. Sie wandte sich schaudernd ab und versank wieder in jener dumpfen Welt der Teilnahmslosigkeit, die sie seit Wochen in ihren Krallen hielt.
    Hinter dem alten Haupthaus lagen modernere Anbauten und stille Gartenanlagen. Normalerweise hätte solch ein Ort eine angenehme und ruhige Wirkung auf Eleanor haben können. Am Tage ihrer Ankunft aber hätte Eleanor alles darum gegeben, wenn ihr Onkel das Fahrzeug gewendet hätte um sie so weit wie möglich von hier
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