Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hoellenfeuer

Hoellenfeuer

Titel: Hoellenfeuer
Autoren: Peter Conrad
Vom Netzwerk:
ausgesandt hatte. Niemand hatte ihre Qual wahrgenommen. Und dann, von einem Augenblick auf den anderen hatte sie gewusst, was zu tun war. Ihr Leben war so falsch gewesen, so unendlich widerlich und abstoßend, dass es ihr ganz plötzlich verlockend erschienen war, es zu beenden und alles hinter sich lassen zu können. Wie schön musste es sein, nicht länger Tag für Tag aufwachen und im Spiegel diesen Menschen sehen zu müssen, der so schwach und hilflos war. Eleanor hasste sich dafür, dass sie an diesem Leben versagte. Sie hasste sich für ihr Aussehen, ihre Unbeholfenheit, ihre Verschlossenheit; für einfach alles, was sie ausmachte. Und sie hasste die Menschen, die sie in ihrer Umgebung täglich spüren ließen, dass sie in ihren Augen unvollkommen, uninteressant und entbehrlich war. Sie hasste ihre Schule, ihre Klassenkameradinnen, sie hasste Calvin… Calvin, der sie nicht wahrnahm…
    An jenem Tag, als diese Erkenntnis sie wie ein Blitz traf, war ihr das Rasiermesser auf dem Bord des Spiegelschranks im Badezimmer plötzlich verführerisch und freundlich erschienen. Ein kleiner Schnitt – mehr würde es nicht sein. Aber er könnte ihr für immer aus ihren Problemen heraushelfen. Seltsamerweise hatte Eleanor in diesem Moment nicht ein einziges Mal an ihre Familie gedacht, an jene Menschen, die keine Schuld an ihrem verkorksten Leben traf. All das war vollkommen aus ihrem Geist ausgeblendet gewesen. Allein die Verheißung auf ein Ende ihrer Qual hatte ihre Gedanken bestimmt.
    Und dann lag die Klinge auf einmal in ihrer Hand. Sie wusste nicht, wie sie dahin geraten war, doch jetzt lag sie dort, kalt, scharf und tödlich. Sie bemerkte kaum, wie sie die Klinge nahm und sie vorsichtig, fast zärtlich über die Haut ihres Handgelenkes führte. Es tat nicht einmal wirklich weh, doch plötzlich sprudelte das Blut dunkelrot aus dem Schnitt, der so fein war, dass man ihn eigentlich gar nicht sah. Ungläubig, ja beinahe fasziniert, hatte Eleanor auf das Blut gestarrt. Die ersten Tropfen fielen auf den Boden des Badezimmers, dann folgten mehr und mehr. Plötzlich nahm der Blutstrom so rapide zu, dass aus den Tropfen ein stetes Rinnsal wurde, ein roter Fluss, der zu Eleanors Füßen einen See bildete…
    „Sag einmal, Eleanor, warum willst du deine Familie nicht sehen?“, drang Dr. Marcus‘ Stimme durch ihre Gedanken. „Deine Mutter ruft jeden Tag bei uns an und fragt nach dir. Und jeden Tag müssen die Damen und Herren im Büro ihr sagen, dass du sie nicht sehen willst. Ich weiß, dass sie das sehr traurig macht.“
    Eleanor zuckte zusammen und sah beschämt zu Boden. Sie war sich wohl bewusst, dass sie ihrer Familie Schmerz bereitete. Ihrer Mutter mehr als allen anderen. Aber um nichts in der Welt hätte Eleanor ihnen unter die Augen treten und sie noch dazu ansehen können.
    „Ich... ich kann... ich kann es einfach nicht “, stammelte sie und wand sich dabei unsicher unter Dr. Marcus Blicken. „Ich will ihnen nicht wehtun... aber ich weiß nicht, wie ich ihren Anblick..“, Eleanor rang nach Worten. „... ertragen könnte.“
    „Ich verstehe “, erwiderte Dr. Marcus nach einem kurzen Zögern. „Vielleicht könntest du ihnen einen Brief schreiben. Manchmal fällt es einem leichter, seine Gedanken zum Ausdruck zu bringen, wenn man seinen Gesprächspartner nicht vor sich stehen hat. Willst du es versuchen?“
    Eleanor schüttelte den Kopf. Im Augenblick wollte sie nichts weiter als allein sein. Einen Brief zu schreiben, und dabei die Gesichter ihrer Familie im Geiste vor sich sehen zu müssen, erschien ihr genau so unerträglich, wie ihnen leibhaftig gegenüberstehen zu müssen.
    Eleanor versank erneut in ihren Gedanken und Ängsten. Sie sah die Gesichter ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester Nora vor sich. Es war unmöglich, ihnen zu entkommen. Minutenlang nahm sie kaum etwas von ihrer Umwelt war. Dr. Marcus' Stimme erfüllte den Raum, wogte und waberte durch Eleanors Welt, die zur Zeit so winzig und begrenzt war, doch die Worte erreichten ihren Geist nicht. Sie nahm nichts von dem wahr, was Dr. Marcus ihr zu sagen versuchte.
    „Es ist noch alles zu frisch für dich, fürchte ich “, seufzte Dr. Marcus schließlich. „Es wird das Beste sein, du kommst erst einmal zur Ruhe.“
    Er schob eine kleine unscheinbare Tablette in einer durchsichtigen Plastikbox zu Eleanor hinüber. „Hier hast du etwas, um besser schlafen zu können. Vielleicht kommen wir besser voran, wenn du etwas ausgeglichener bist. Schlaf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher