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Hoellenengel

Hoellenengel

Titel: Hoellenengel
Autoren: Thráinn Bertelsson
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der Tür ruhte, sich aufstützte und verwirrt um sich
blickte. Dann war es, als würde ihr klar, dass sie irgendetwas
in der Hand hielt. Es war eine kleine Pistole mit einem kurzen Lauf
und sie hob den Arm.
    Bevor die Frau die Pistole hochgehoben hatte, war es Dagný
gelungen, zu ihr zu rennen und gegen ihren Arm zu treten. Die
Pistole wurde an die Wand geschleudert und fiel mit metallischem
Klang zu Boden. Die Frau stöhnte.
    Dagný hob die Pistole auf, richtete sie auf die Frau und
sah, dass sie wahrscheinlich nicht aufstehen würde. Ihr linkes
Bein war gebrochen oder ausgerenkt. Der Unterschenkel bildete fast
einen Neunzig-Grad-Winkel zum Oberschenkel, wie das Bein einer
Puppe.
    Jetzt rief Víkingur: »Dagný, Dagný. Hast
du dein Telefon? Sie hat uns die Telefone abgenommen. Sie sind im
Geländewagen.«
    Víkingur saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden
und hielt Randver im Arm. Er war kreidebleich, aber bei
Bewusstsein. Sie sah, dass auf dem Boden eine Blutlache
entstand.
    »Ich laufe schnell zum Auto«, sagte sie, hielt aber an
und drehte sich um, als sie zur Tür gekommen war. Sie legte
die Pistole neben Víkingur hin.
    »Sag ihnen, sie sollen einen Arzt von Hvolsvöllur aus
schicken und einen Helikopter von Reykjavík und eine Zange
oder irgendetwas, um Terje loszumachen, ja, und die Handschellen.
Wir hängen wohl aneinander, lieber Randver.«
    »Unzertrennlich«, flüsterte Randver mühsam
und begann dann zu husten, als hätte er sich
verschluckt.
    Dagný zögerte nicht länger. Lieber Gott, mach,
dass ich hier eine GSM-Verbindung habe, mach bitte, bitte, ich
bitte dich, dachte sie und begann vor Erleichterung und Anspannung
zu weinen, als sie hörte, wie jemand sagte: »Notruf 112,
guten Abend.«
    Als sie antworten wollte, fiel es ihr schwer zu sprechen. Sie
blutete aus dem Mund und den Lippen. »Ich heiße
Dagný Axelsdóttir und bin eine Polizistin aus
Reykjavík. Ich befinde mich in Ketilhúshagi in
Rangárvellir. Ich bin verletzt, nicht betrunken, deswegen
rede ich so undeutlich.«
    Als das Telefongespräch beendet war, versuchte sie, sich Blut
und Tränen abzuwischen. Sie lehnte sich ans Auto. Es herrschte
absolute Windstille und nie zuvor hatte sie bemerkt, wie schön
die Welt an einem Sommerabend, in Zauberlicht und Unschuld gebadet,
sein kann.
    Sie fürchtete sich davor, wieder nach drinnen in die
Schreckenswelt zurückzukehren, die sie gerade erst verlassen
hatte. Zufällig sah sie ihr Gesicht im Rückspiegel des
Autos und zwang sich, näher zu treten und dieses blutige
Antlitz mit den ängstlichen Augen anzusehen.
    Es hätte schlimmer sein können, schien ihr. Drei
Schneidezähne waren abgebrochen. Nur einer davon schien lose
zu sein. Die Oberlippe war stark geschwollen und ihre Nase, Stirn
und Wangen waren zerschrammt.
    Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen, nicht, weil es
sie schmerzte, wie sie aussah, sondern aus unbändiger Freude
über das Leben in ihrer Brust.
    Die Hilfe muss in etwa zehn Minuten eintreffen, höchstens
einer Viertelstunde. Am liebsten würde ich hier draußen
warten. Ich kann mich da drin sowieso nicht nützlich machen,
dachte sie, als sie sich anschickte, ins Gebäude
zurückzukehren, in dem sich der Tod aufhielt.
    *****
    »Hilfe ist unterwegs«, sagte Dagný, sobald sie
wieder in den Saal eintrat.
    Niemand schaute auf. Niemand freute sich über diese gute
Nachricht. Terje schien dem Schlaf näher als dem
Wachsein.
    Die Frau vergrub ihr Gesicht in den Händen.
    Víkingur saß noch an derselben Stelle mit seinem
Freund im Arm. Die Blutlache an seiner Seite war das Einzige, was
sich bewegte. Die Augen Randvers waren geschlossen und der
glückliche Ausdruck auf seinem Gesicht gab zu erkennen, dass
sein Schlaf tief und gut war.
    Víkingur blickte auf und schaute Dagný an.
Tränen liefen seine Wangen herab.
    »Zu spät«, sagte er. »Zu
spät.«

Dreißig
    Er lachte. Es war einmalig, wie dieser Mann lachen
konnte.
    »Nur, wenn ich lache«, hatte er gesagt, als ein
Geisteskranker ihn an eine Wand genagelt hatte. Damals war ihnen
beiden nicht nach Lachen zumute gewesen, aber dennoch hatte er sich
bemüht, einen alten Witz hervorzukramen, um sie aufzumuntern
und ihr Mut zu machen.
    »Ich sehe wie eine Mumie aus«, sagte Terje und hob die
Hände. »Eine junge, sexy Mumie. Wo wir gerade vom
Aussehen sprechen, ich bin mir gar nicht sicher, ob du dir deine
Zähne reparieren lassen solltest. Ich habe Bilder von
Kannibalen gesehen, die sich die Zähne schleifen lassen,
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