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Hoellenengel

Hoellenengel

Titel: Hoellenengel
Autoren: Thráinn Bertelsson
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den Atem an und hoffte inständig,
dass niemand das Quietschen der Scharniere gehört haben
möge. Es schien tatsächlich so. Der Sprecher fuhr mit
seinem Vortrag fort, ohne dass sie die Worte verstehen
konnte.
    Sie wurde von Panik erfasst. Sie glaubte, ihr Herzschlag müsse
zu hören sein, und ihr rascher Atem machte sie
verrückt.
    Was ist los mit dir, Frau?, sagte sie sich. Du hast überhaupt
nichts gesehen. Wovor fürchtest du dich eigentlich? Terje wird
dich dauernd aufziehen, wenn er ahnt, dass du Todesangst hattest,
weil der Kuhstall so gruselig war.
    Sie verfluchte sich auch im Stillen, dass sie so dumm gewesen und
überhastet aufs Land gefahren war, nur weil ihr Kollege
verbummelt hatte, ans Telefon zu gehen. Und auch dafür, dass
sie unbewaffnet war ­ allerdings wäre sie auf der Wache
ausgelacht worden, wenn sie gesagt hätte, sie brauche eine
Pistole, um nach Terje zu suchen.
    Sie drückte vorsichtig die Tür auf, Millimeter um
Millimeter, ohne dass auch nur ein Ton zu hören war. Sie
behielt den Rahmen im Blick, an dem die Scharniere der Tür
befestigt waren. Als sie sah, dass sich eine winzige Ritze zwischen
Tür und Rahmen aufgetan hatte, schaute sie hindurch. Am
Kopfende des Saals stand ein großer Mann und beugte sich
über einen anderen Mann. Der saß zusammengesunken auf
eine Bank an der Wand und breitete die Arme aus. Sie erkannte die
braune Lederjacke. Das war Terje. Von dem anderen sah sie nur den
Rücken und konnte ihn nicht einordnen. Er war es offenbar, der
sprach. Nicht laut genug, dass sie die Worte hätte verstehen
können. Er bewegte die Hände merkwürdig, und als sie
sich besser am Spalt postierte, sah sie, dass er ein Messer in der
einen Hand hatte und in der anderen einen langen Stab hielt, an dem
er zu schnitzen schien.
             
    Unterhalten sie sich einfach nur? Warum macht Terje nichts als
mucksmäuschenstill mit ausgebreiteten Armen dazusitzen?,
dachte sie und hielt abrupt die Luft an, als ihr klar wurde, dass
Terje die Arme nicht bewegte, weil seine Hände an die Balken
in der Wand hinter ihm genagelt worden waren.
    Plötzlich verstand sie, was der Mann mit dem Stab vorhatte,
den er schnitzte.
    Gelähmt vor Angst hielt sie den Atem an.
    Ich muss etwas tun. Sofort. Bevor es zu spät ist. Ich habe
nicht genug Zeit, um rauszuschleichen und Unterstützung
anzufordern. Das Sondereinsatzkommando bräuchte eine Stunde,
um hier zu sein. Die Polizei von Hvolsvöllur könnte eine
halbe Stunde brauchen. Ich habe keine halbe Stunde. Ich muss etwas
tun. Jetzt. Was kann ich tun? Was?
    *****
    Wollte die Frau sie provozieren? War es Zufall, dass sie die
Formulierung »wohlverdiente Strafe« für diejenigen
gewählt hatte, die den Tod ihrer Tochter verursacht hatten?
Allerdings konnte man in ihrer Miene keinen Hinweis entdecken, dass
sie eine Reaktion von ihnen erwartete.
    »Wohlverdiente Strafe«, sagte Randver. »Kennst du
eine Website mit dem Namen?«
    »Selbstverständlich kenne ich sie«, sagte Edda
ruhig.
    »Mein Sohn kümmert sich um sie. Ich kann nicht gut mit
Computern umgehen.«
    »L und T«, sagte Víkingur. »LT. Sagt dir
diese Abkürzung etwas?«
    Sie blickte ihn erstaunt an, wie ein Lehrer einen ungewöhnlich
begriffsstutzigen Schüler anschaut.
    »Das wird der internationale Name der Website. Nur
Isländer verstehen >wohlverdiente Strafe<. Diese Website
betrifft die ganze Welt. LT bedeutet Lex
Talionis .
So einfach ist das.«
    »Wohlverdiente Strafe«, sagte Víkingur.
» Lex
Talionis bedeutet wohlverdiente
Strafe.«
    Edda nahm einen zufriedenen Ausdruck an.
    »Ein Polizist, der Latein kann! Das ist ja ein
Ding!«
    Randver war stolz auf seinen Freund und konnte sich nicht
zurückhalten, leise anzufügen: »Víkingur hat
nämlich Theologie studiert.«
    »Das freut mich zu hören«, sagte Edda. »Dann
solltest du wissen, dass die Lex Talionis das älteste
Gesetz der Welt ist. Es begleitet das Menschengeschlecht seit dem
Beginn der Zeit. Es waren die ersten Gesetze, die die Menschen
aufschrieben, nachdem die Schriftzeichen erfunden wurden. Anu und Bel haben
mich, Hammurabi, den edlen Prinz, der Gott fürchtete,
auserwählt, um Gerechtigkeit im Land herzustellen, um die
bösen Menschen und Taten auszuräumen, und damit die
Starken nicht denjenigen Schaden zufügen, die über
weniger verfügen. Dieses Gesetz kommt von Gott, da
sind sich alle einig, man findet es in der Tora der Juden, im Alten
Testament, im Koran. Das ist das Gesetz, das es jedem, dem Unrecht
getan
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