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Hochgefickt

Titel: Hochgefickt
Autoren: Nathalie Bergdoll
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Strenge zurechtgewiesen, jedoch gleichzeitig mit kokettem Wimpernklimpern vertröstet. »Später aber natürlich gerne …! – Also, Sternchen, wo war ich gerade? ›Aber warum ich dir diesen Brief schreibe: Heute Morgen war wieder der Pastor da, der alte Erbschleicher. Der beschwatzt mich doch tatsächlich immer, dass ich der Kirche das Haus vererben soll, wenn ich mal nicht mehr bin. Die Kirche hat doch genug Geld, das sehe ich gar nicht ein. Ich habe keine Verwandten mehr, die erben könnten, und auch wenn ich weiß, wie sehr ihr euer Zigeunerleben liebt: Du und dein Günther, ihr sollt das Haus kriegen. Ich will mich daran freuen, dass ihr ein schönes Zuhause habt, wenn ihr mal Kinder bekommt. Weil ich aber tatsächlich die alte Hexe bin, für die mich alle halten, stelle ich euch eine Bedingung: Ihr dürft das Erbe nur antreten, wenn ihr miteinander verheiratet seid. Also tu einer alten, romantischen Frau bitte den Gefallen und leb mit deinem Günther ein glückliches Leben in meinem Haus – als ordentlich verheiratete und trotzdem wilde Eheleute mit fröhlichen Kindern. Ich danke dir für die vielen schönen Stunden und hoffe, du freust dich über mein Geschenk. In liebevoller Freundschaft und Fürsorge, deine Frau Stahlke. PS: Verkneif es dir bitte unbedingt, eines Tages deine Tochter nach mir zu benennen – Walburga ist einfach ein zu hässlicher Name!‹«
    »Und als deine Mutter dann ihre Tränen getrocknet hatte, sind wir in Palermo auf die Fähre gegangen und haben dort direkt den Kapitän gebeten, uns zu trauen.«
    »Papa sah so toll aus in seiner engen Jeans und dem gebatikten Doppelripphemd, und ich hab extra mein elfenbeinfarbenes Charleston-Kleid angezogen, das Frau Stahlke mir Weihnachten ’67 geschenkt hatte. In dem Kleid ist sie nämlich früher beim Maifest immer die anderen Frauen im Dorf ärgern gegangen, und daher fand ich das für meine Hochzeit sehr passend. Das hätte Frau Stahlke bestimmt amüsiert …«
    »Und Mama sah in dem Kleid aus wie eine Göttin, wie sie durch das Spalier der johlenden Matrosen auf mich zukam. Es war unglaublich, ich war so stolz und so glücklich!«
    Von der anschließenden Party auf der Fähre haben angeblich sogar die italienischen Zeitungen berichtet. Schade, dass meine Eltern es in ihrem verkaterten Zustand versäumt haben, die Zeitung einzustecken, der gerahmte Ausschnitt hätte sich neben Frau Stahlkes Brief am Kamin bestimmt gut gemacht. Wahrscheinlich noch besser über ihrem Ehebett, aber nun denn.
    Meine Eltern erbten also 1969 als Eheleute Große das Haus und traten nach fünf Jahren des Herumtourens zum nächsten großen Abenteuer an: sesshaft werden in der Eifel. Durch ihre Arbeit kannten sie bereits einige Bewohner des Ortes, und nach lukrativen Umbaumaßnahmen am Haus waren die örtlichen Handwerker ihnen auch positiv zugetan. Diesen Bonus bauten sie aus und gewannen kontinuierlich Sympathien durch ihre handfeste Art, sich in das soziale Leben des Ortes einzuklinken.
    Denn das gelang den beiden Kommunikationsgenies ganz hervorragend: Renate bei den Frauen über ihr »Frisierstübchen Salon Renate«, das sie im Erdgeschoss des Hauses eröffnet hatte; Günther bei den Männern über seine neue Harley Davidson Duo-Glide, die er gegen den Blitz getauscht hatte, vor allem aber über seine Mitgliedschaft in der freiwilligen Feuerwehr. Dort war er als kumpeliger Experte mit seinen Geschichten über gescheiterte Versicherungsbetrugsversuche gern gesehen – und er war auch lehrreicher Beistand für die erfolgreiche Variante, die der Feuerwehr 1972 ein neues Vereinsheim bescherte.
    Ihren hohen Unterhaltungswert schöpften meine Eltern zusätzlich über den Exoten-Status, den sie im Ort aufgrund ihrer hippieesken Vorgeschichte innehatten. Und weil meine quirlige Mutter aus ihrem Salon heraus die Eifel nicht nur mit Kosmetik, Stil- und Frisuroptimierungen, sondern auch mit Sex-Tipps und kurzweiligen Geschichten aus der großen weiten Welt beglückte, war ihr Terminbuch bald so voll, dass sie zwei Mädchen aus dem Ort als Lehrlinge einstellen musste. Mein Vater war in seinem Metier währenddessen so erfolgreich, dass man ihm viel Geld zahlte, damit er in Schulungen einige seiner Tricks und Kniffe preisgab. (Sozusagen als früher Motivations- und Erfolgstrainer, und das schon zu einer Zeit, als man sich noch über Begriffe und Modeerscheinungen wie »Personality-Coaching«, »Success-Maximizing« oder » Netting Networks« kaputtgelacht hätte.
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