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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder
Autoren: Rebecca Gablé
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sagst immer, jemand anders ist vor mir dran und …«
    Losian legte ihm die Hand auf den Arm. »Du bekommst die Schuhe. Aber nicht die Decke. Es tut mir leid. Im Übrigen ist Griff noch nicht tot, und wir sollten wenigstens warten, bis wir ihn der See übergeben haben, bevor wir seine Habseligkeiten verteilen.«
    »Amen«, sagte King Edmund mit Nachdruck. »Und nun lasset uns beten.«
    Alle stellten ihre Schalen auf den Boden, bekreuzigten sich und senkten die Köpfe, während King Edmund ein Tischgebet sprach.
    Wieso beten wir, wenn Gott uns verstoßen hat?, fuhr es Simon durch den Kopf, aber er war zu hungrig, um sich jetzt mit dieser Frage zu befassen. Sobald das Gebet beendet war, ergriff er seine Schale und wollte mit den Fingern Grütze herausschöpfen.
    »Nein, nein, das ist nicht nötig«, sagte Godric und verteilte hölzerne Löffel. »Früher haben wir mit den Fingern gegessen. Früher haben wir hier überhaupt gelebt wie die Tiere. Bis er kam.« Er zeigte mit seiner Schale auf Losian, der auf einer Holzkiste saß, die Beine übereinandergeschlagen. »Er hat uns dran erinnert, dass wir menschliche Wesen sind, und sorgt dafür, dass wir uns meistens auch so benehmen.«
    »Warum steckst du nicht einen Löffel Grütze in deinen viel zu großen Mund, Godric«, grollte Losian.
    »Er mag es nicht sonderlich, wenn man das sagt«, vertraute Wulfric Simon im Verschwörerton an. »Wahrscheinlich fürchtet er, dass er eines Morgens aufwacht und sich dran erinnert, dass er ein Rattenfänger oder Schweinehirt war und seine ganze Vornehmheit nur Getue ist.«
    Zielsicher und blitzschnell warf Losian seinen Löffel nach ihm, aber die Zwillinge bogen lachend die Köpfe weg – beide im selben Moment.
    Simon hätte geglaubt, dass der Anblick von so viel Gebrechen und menschlichem Elend ihn in tiefe Düsternis gestürzt, ihm zumindest nachhaltig den Appetit verschlagen hätte, aber das war nicht der Fall. Vor allem Godric und Wulfric hatte er zu verdanken, dass sein neues Leben ihm nicht ganz und gar unerträglich erschien. Sie hatten ihn eingeladen, zu ihnen in die alte Schmiede zu ziehen, und Simon hatte mit großer Erleichterung angenommen. Sie hatten ihm den Brunnen und die Abtrittbude hinter dem einstigen Viehstall gezeigt und ihm die tägliche Routine dieser sonderbaren Bruderschaft erklärt. Und als es Nacht wurde, legten sie sich auf ihrem Strohlager auf den Rücken und schliefen selig, ohne sich je auf die Seite drehen zu können, während Simon sich rastlos und von schweren Träumen geplagt hin und her wälzte.
    Der unerschütterliche Frohsinn, mit dem Wulfric und Godric ihrem Schicksal begegneten, richtete ihn auf, und obwohl sie nur ungehobelte angelsächsische Bauern waren, nahm er sie sich zum Vorbild. Ihnen war es ganz ähnlich ergangen wie ihm, und Simon sollte im Laufe der nächsten Tage lernen, dass die Geschichten all derer, die es hierher verschlagen hatte, sich glichen. Wulfrics und Godrics Vater war ein angesehener Schafzüchter in einem Dorf unweit von Scarborough. Ihre Mutter war bei der Geburt der Zwillinge verblutet, doch weder das noch ihre Anomalie hatte der Vater ihnen je übel genommen. Es war ja nicht so, als hätte die Welt nie zuvor von zusammengewachsenen Zwillingen gehört. Bei Welpen und Kälbern geschah das ja gelegentlich auch. Im Grunde waren sie völlig normal aufgewachsen, und die Leute im Dorf glaubten, dass die Zwillinge mit dem sonnigen Gemüt ihnen Glück brächten, denn seit ihrer Geburt hatte es keine einzige Missernte mehr gegeben. Dann war der Krieg gekommen, und schottische Truppen hatten den ganzen Norden Englands besetzt. Sie taten den Leuten kein Leid, aber sie fraßen ihnen die Haare vom Kopf, und die Dorfältesten hatten entschieden, den Abt von St. Pancras um Vermittlung und Fürsprache zu bitten, denn er war mächtig und bei den Schotten hoch geachtet. Vermutlich war es eine Dummheit gewesen, ausgerechnet die Zwillinge zu schicken, denn wer den Anblick nicht gewöhnt war, erschrak leicht. Trotzdem hatten die Ältesten es beschlossen, weil Wulfric und Godric ihnen eben immer Glück gebracht hatten. Voller Neugier und Abenteuerlust hatten die beiden damals vierzehnjährigen Jungen sich auf den Weg gemacht, und der Abt von St. Pancras hatte sie nie wieder nach Hause gelassen. Aber das Einzige, was ihnen an der ganzen Sache wirklich zu schaffen machte, war der Kummer ihres Vaters.
    »Wir wissen nicht, ob er sich je auf den Weg nach St. Pancras gemacht hat, um
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