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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder
Autoren: Rebecca Gablé
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Jugendliche beiderlei Geschlechts missbrauchte und ermordete, ehe er 1440 hingerichtet wurde. Eigentlich wollte ich einen Roman über Gilles schreiben. Doch als ich mir die Frage stellte, ob ich wirklich zwei Jahre meines Lebens – so lang brauche ich ungefähr für einen Roman – in seiner Gesellschaft verbringen wollte, lautete die Antwort: Nein, vielleicht lieber doch nicht. Dennoch hat mich das Thema nie losgelassen, nicht zuletzt auch der Aspekt, wie lange und mühelos ein Angehöriger des Adels Kinder aus der bäuerlichen Unterschicht verschwinden lassen konnte, ehe der Justizapparat sich in Bewegung setzte und wenigstens einmal nachfragte.
    Das Down-Syndrom, das Sie vermutlich bei Oswald diagnostiziert haben, hielt man lange für ein Phänomen der Neuzeit, weil es erst im 19. Jahrhundert wissenschaftlich beschrieben wurde. Inzwischen sind aber 3000 Jahre alte Ton- und Steinfiguren und spätmittelalterliche Gemälde entdeckt worden, die Menschen mit typischen Merkmalen dieser genetischen Anomalie zeigen.
    Epilepsie, die angeboren oder durch eine Verletzung verursacht sein kann, wird schon bei den alten Ägyptern und Babyloniern beschrieben. In der Antike galten Epileptiker als Lieblinge der Götter. Alexander der Große und Julius Caesar litten daran, um nur zwei der berühmtesten Vertreter zu nennen. Im Mittelalter ließ die Beliebtheit der Betroffenen merklich nach. Nicht immer, aber auch nicht selten wurde Epilepsie als göttliche Strafe angesehen oder als Besessenheit diagnostiziert, der man mit Exorzismen beizukommen suchte.
    Die Lehrmeinung der mittelalterlichen Wissenschaft zu Ursachen körperlicher und geistiger Behinderungen oder psychischer Störungen war nicht einheitlich, ebenso wenig die Beantwortung der Frage, wie Betroffene zu behandeln seien und welchen Platz in der Gesellschaft sie einnehmen sollten. Der Schönheitswahn, der heutzutage die Umsätze der plastischen Chirurgen ankurbelt, war im Mittelalter unbekannt. Arm- und Beinstümpfe von Kriegsverletzungen, Fehlbildungen, Hauterkrankungen etc. gehörten zum Alltagsbild, und niemand wäre auf die Idee gekommen, sich sonderlich darüber aufzuregen. Doch gab es eben auch eine kirchliche Lehrmeinung, die besagte, dass geistig Behinderte keine Seele haben und Menschen mit körperlichen Fehlbildungen nicht nach Gottes Ebenbild erschaffen seien und man sie deshalb separieren müsse, weil der Gemeinschaft der Christen ein Zusammenleben mit diesen Personengruppen nicht zuzumuten sei. Als die Lepra sich im späteren Mittelalter auf dem Rückzug befand, war die Praxis verbreitet, Behinderte in den nicht mehr benötigten Leprosarien einzusperren. Es gab indes auch zu dieser frühen Zeit schon Gelehrte, die psychische Störungen als medizinisches Phänomen verstanden und zu behandeln versuchten. Da die gesamte medizinische Wissenschaft aber bei Muslimen, Juden und Christen gleichermaßen auf der antiken Lehre von den vier Körpersäften basierte, waren ihre Fortschritte eher bescheiden. Die explosive Mischung aus Hypnose und Drogen, mit der Josua ben Isaac Alan im Roman zu helfen versucht, habe ich erfunden, aber Behandlungsansätze mit Hypnose, Diäten und Bädern sind ebenso belegt wie leider auch die glühenden Stahlstifte.
    Lange habe ich nach der geeigneten Form und den richtigen Figuren gesucht, um die Geschichte vom Untergang des White Ship und all dem, was danach geschah, zu erzählen, so wie ich es im Nachwort von Das zweite Königreich in Aussicht gestellt habe, und um dieser Epoche gerecht zu werden, die ihren Namen – The Anarchy – wahrhaftig zu Recht trägt. Oder besser gesagt: Ich habe lange auf die geeignete Form und die richtigen Figuren gewartet . Irgendwann kommen sie nämlich ganz von selbst, hat die Erfahrung mich gelehrt, und so war es auch dieses Mal. Das erste Steinchen zum Mosaik dieses Romans fand ich auf höchst angenehme Art, nämlich im Urlaub auf Kreta, wo ich von der Terrasse einen wundervollen Blick auf die kleine vorgelagerte Insel Spinalonga hatte. In der alten venezianischen Festung auf diesem Inselchen verwahrte die griechische Regierung bis in die 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts Leprakranke. Als mein Mann und ich die Insel besuchten, betraten wir die Festung durch ein gewaltiges Tor, und ich bekam ganz weiche Knie. Wie muss es sich angefühlt haben, habe ich mich gefragt, wenn man als Kranker durch dieses Tor kam? Mit der Gewissheit, dass man die Insel nie wieder verlassen würde? Die Erinnerung an dieses Erlebnis
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