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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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vernahm, wunderte er sich wieder einmal über die freundliche, ja fast liebevolle Mithilfe des Geschicks.
    Calvin Shanks bewohnte das Erdgeschoß eines Zweifamilienhauses, das in jeder Beziehung zwei Dutzend anderen Backsteinhäusern im gleichen Block ähnelte. Es gab auch andere Übereinstimmungen in dieser Gegend – von Automodellen, Kindern, Büschen und Ehefrauen. Der größte Teil der männlichen Bevölkerung aus der Nachbarschaft war bei der Arbeit, doch Calvin Shanks hatte außer seinem verkommenen Garten hinter dem Haus und seinem kleinen Haushalt nicht viel zu tun. Aber Shanks hatte auch wenig Ähnlichkeit mit seinen Nachbarn. Er war einzigartig. Wenn das überhaupt möglich war, hatten ihn die letzten zwanzig Jahre noch einzigartiger gemacht, überlegte Vanner.
    Bevor er ihn wiedersah, wußte Vanner nur noch, daß Shanks eine schwarzgekleidete, insektenhafte Gestalt war, eine Gottesanbeterin in Trauerkleidung. Jetzt fiel ihm auch das Gesicht des Mannes wieder ein, ein Gesicht, das von der Natur wie eine Karikatur behandelt worden war – die Augen wie Lakritzkugeln, die in Hautfalten rollten, die vorspringende Nase, der herabgezogene Mund und das vorspringende Kinn. Zeit und Alkohol hatten das Gesicht nicht verändert, wenn sie auch den Körper hatten schrumpfen lassen.
    Er war der Leichenbestatter. Noch immer.
    »Vanner«, sagte er laut, als er erkannte, daß Shanks etwas schwerhörig war. »Dr. Vanner.«
    »Hab nicht begriffen, was Sie am Telefon wollten«, sagte Shanks. »Wozu brauchten Sie mich?«
    »Ich sagte, es ginge um eine Patientin von mir, eine gewisse Miss Gail Gunnerson. Ich bin sicher, der Name bedeutet Ihnen nichts, aber Sie wissen vielleicht noch, daß Sie im März 1955 ihre Mutter bestattet haben. Als Sie noch Chef des Strathmore-Bestattungsunternehmens waren.«
    »Nein«, sagte Shanks kopfschüttelnd. »Unbekannt. Sie erwarten doch nicht, daß ich noch alle Namen im Kopf habe – es waren zu viele.«
    »Ich glaube, ich kann Ihnen helfen, sich an den Fall zu erinnern. Das Haus der Gunnersons liegt in der Schuyler Avenue in Manhattan. Ein Stadthaus, eigentlich ein Herrensitz. Die Gunnersons waren sehr vermögend. Mr. Theodore Gunnerson war sehr reich, aber er kam in Korea ums Leben. Er heiratete eine Schauspielerin namens Cressie Blake. Und die war damals gestorben. Sagt Ihnen das etwas?«
    Shanks Kopf bewegte sich hin und her; die Erinnerung wollte nicht kommen.
    »Meine Patientin war damals erst sechs Jahre alt, Mr. Shanks, ein kleines Mädchen, das durch den Tod ihrer Mutter zur Waise wurde. Die ganze Sache hatte sie natürlich sehr aufgeregt, aber in der betreffenden Nacht geschah noch etwas, das sie noch viel mehr mitnahm. Etwas, wofür Sie vielleicht verantwortlich sind.«
    Jetzt stand der Kopf still, und die Lakritzaugen rollten herum und sahen Vanner neugierig an.
    »Wovon reden Sie da?«
    »Ich bin Psychiater. Ich versuche dieser jungen Dame zu helfen, ein ernsthaftes psychiatrisches Problem zu überwinden, das ihre Gesundheit und vielleicht sogar ihr Leben bedroht. In jener Nacht erlitt sie ein sogenanntes ›Trauma‹, ein Erlebnis, das sie in eine psychiatrische Anstalt brachte, obwohl sie damals noch sehr jung war. Ich habe die Ursache dieses Traumas erst kürzlich erfahren – und das scheinen Sie gewesen zu sein, Mr. Shanks.«
    Vanner ließ seine Worte zwischen ihnen hängen wie eine straff gespannte Schnur.
    »Ich?« fragte Mr. Shanks atemlos. »Was zum Teufel werfen Sie mir vor? Ich habe niemandem ein Trauma gegeben, weiß ja gar nicht mal, was das ist!«
    »Sie haben die Leiche Cressie Gunnersons am Abend des 12. März 1955 abgeholt. Sie hatten zwei Männer Ihrer Firma bei sich, wahrscheinlich war der eine Mr. Feeny. Sie brachten die Tote fort. Aber etwa vier Stunden später kehrten Sie in das Gunnerson-Haus zurück. Es war zwischen elf Uhr und Mitternacht. Sie suchten das Haus noch einmal auf, weil Sie dort etwas vergessen hatten. Erinnern Sie sich?«
    Shanks‘ Hand machte sich auf die Suche nach seinem Mund. Der Schlitz war so schmal, daß es ein Wunder war, daß er ihn fand.
    »Etwas vergessen … Ja … ich glaube, daran erinnere ich mich. Ich hatte meinen Füllfederhalter oder etwas Ähnliches in einem Haus liegen lassen …«
    »Aktentasche«, sagte Vanner.
    »Ja, die Aktentasche! Das war‘s. Nur weiß ich nicht mehr, wessen Haus es war. Der Name des Kunden ist mir entfallen.«
    »Gunnerson«, sagte Vanner hilfsbereit wie immer. »Versuchen Sie sich an den Namen zu
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