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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür
Autoren: Henry Slesar
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und nicht wie einen jungen Einwanderer. Cassandra hatte ihre Aufgabe erfüllt; jetzt konnte sie ihm nichts mehr nützen. Vanner legte ihr das Halsband um und führte den Hund in den Central Park, ohne sich um die gefährliche Dunkelheit zu kümmern. Als er sich der Schafswiese näherte, ließ er Cassandra frei. Sie war es gewöhnt, Lei Tage herumzutollen; die Dunkelheit schien sie zu hemmen. »Los, Cass, mach schon, altes Mädchen!« drängte er und klopfte ihr aufs Hinterteil. Die Hündin wurde mutiger und sprang hinter einem Stück Papier her, das vom Wind vorbeigewirbelt wurde; sie hielt es wohl für ein Kaninchen. Hastig verließ Vanner den Park, wobei er die Leine in einen Papierkorb warf. Dann ging er nach Hause und schlief ungestört bis zum Morgen durch.
    Er hatte bisher keine Zeit gehabt, über die wunderbare Einfachheit der Lösung nachzudenken, die ihm Mrs. Bellinger netterweise geliefert hatte. Einfachheit! Deshalb waren die raffinierten Denker in der Mead-Klinik nicht darauf gekommen! Sie waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, nach Anti-Kathexen, endopsychischen Konflikten und nach dem verqueren Auslöser für Gail Gunnersons moralische Ängste zu suchen. Sie hatten sich zu sehr auf die Analyse eines Traums versteift, den es nie gegeben hatte. Nein, Gail hatte keinen Alptraum gehabt; der Alptraum war aus Fleisch und Blut gewesen, ein Meter achtzig groß, fürchterlich anzuschauen in seiner Häßlichkeit und noch fürchterlicher in seiner Absicht. Er holt sie. Er tut sie in einen Holzkasten. Vanner schüttelte bewundernd den Kopf, wie geradlinig Kinder waren. Genau das macht ein Bestattungsunternehmer, hatte Piers der sechsjährigen Gail erzählt. Er tut dich in einen Kasten und begräbt dich dann unter der Erde …
    Aber das war nicht alles gewesen. Dieser Leichenbestatter hatte mehr getan. Dieser Leichenbestatter mochte zwar gewußt haben, wo die Toten begraben wurden, aber in anderer Hinsicht war er vergeßlich gewesen. Der arme Mr. Shanks hatte seine Aktentasche vergessen. Vanner stellte sich ein zerfranstes, ausgebeultes Ledergebilde vor, das sein sauberes Notizbuch voller Eintragungen über Beerdigungsdaten und Blumenarrangements enthielt, Shanks‘ persönliches Buch der Toten. Er hatte seine kostbare Aktentasche vergessen und war in das Haus der Gunnersons zurückgekehrt, um sie zu suchen, und er war dort auf eine mürrische und fußlahme Haushälterin gestoßen, die kein Verständnis hatte für seinen Verlust. Er hatte das geliebte Stück im Wohnzimmer nicht finden können und deshalb beschlossen, ins Obergeschoß hinaufzugehen, um im wahrscheinlichsten Raum nachzusehen, im Schlafzimmer der Toten. Dabei hatte er nicht Cressie Gunnersons Tür geöffnet. Sondern die Tür ihrer kleinen Tochter.
    Und Gail war aufgewacht.
    Die verschlafenen, von Tränen gereizten Augen öffneten sich, blinzelten, sahen.
    Die lange gekrümmte Gestalt, als Silhouette an der Tür.
    Ein Schritt ins Zimmer, und ihr Nachtlicht war gerade hell genug, um die grotesken, unvergeßlichen Züge sichtbar zu machen.
    Der Leichenbestatter war zurückgekehrt.
    Der Mann, der Menschen in Holzkisten legte, war wieder da.
    Und diesmal war er gekommen, um sie zu holen.
    »Gute Nachrichten.«
    Vanners Kopf ruckte so heftig herum, daß er seine Wirbel knirschen hörte. Der Country-Western-Sänger lächelte ihn an. »Mr. Feeny hat Mr. Shanks nicht nur gekannt, er hat früher sogar für ihn gearbeitet. Mit vollem Namen heißt er Calvin Shanks, und Sie hatten recht; ihm gehörte früher die Firma. Er verkaufte sie an Mr. Feeny und zwei andere Leute, als er sich zur Ruhe setzte.«
    »Zur Ruhe setzte«, wiederholte Vanner tonlos.
    »Im Vertrauen gesagt«, fuhr der Leichenbestatter fort, »habe ich das Gefühl, er mußte gehen. Mr. Feeny sagt, Mr. Shanks habe ein wenig zuviel getrunken und sei nicht mehr bei bester Gesundheit gewesen.«
    Noch niedergeschlagener: »Wie lange ist das her?«
    »Etwa fünf Jahre.«
    »Hat Shanks die Stadt verlassen?«
    »Nein. Ich bin ziemlich sicher, daß er noch hier lebt. Mr. Feeny sagt, er bekommt jedes Jahr eine Weihnachtskarte von ihm, Poststempel Brooklyn. Ich kann
    Ihnen die Anschrift nicht geben, aber vielleicht steht sie ja im Telefonbuch.«
    »Darauf wäre ich nie gekommen«, sagte Vanner ironisch. »Das Telefonbuch Brooklyn.«
    Er schaute wenige Minuten später nach. Calvin M. Shanks wohnte in der Utica Street 8891. Als Vanner die Nummer wählte und den akustischen Beweis von Mr. Shanks‘ Existenz
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