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Himmlische Juwelen

Himmlische Juwelen

Titel: Himmlische Juwelen
Autoren: Donna Leon
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aufgestanden und in die
Schule oder zur Arbeit gegangen waren.
    Caterina, ein Opfer ihrer strengen Arbeitsmoral, hatte sich immer
für die ferne Nachfahrin eines blonden Goten aus der Zeit der Völkerwanderung
gehalten, dessen genetisch verankerter Arbeitseifer über Generationen
brachgelegen hatte, um dann mit der Geburt des letzten Kindes von Marco Pellegrini
und Margherita Rossi wieder voll zu erblühen. Wie sonst war der Eifer zu erklären,
der sie schon als Kind beseelte? Wie sonst ihre Absage, als der Bürgermeister,
ein alter Freund ihres Vaters, ihr einen Posten als städtische Beraterin für
Musikerziehung anbot? Sie sah keinen Sinn darin, Geld von einer Schule zur
anderen zu verschieben oder den Musikunterricht in Schulen zu überwachen, die
weder über Bücher noch über Musikinstrumente verfügten und deren Lehrer zwar
keine Noten lesen konnten, dafür aber die Absichten der Politiker, die ihnen
Arbeit gaben, bestens interpretierten. Sie hatte abgelehnt.
    [22]  Daher ihr Exil in Wien, das jahrelange Studium, das Wühlen in den
Archiven von Sankt Petersburg und dann die Plackerei in Matera, nachdem sie aus
Heimweh nach Italien hatte zurückkehren müssen. Erneutes Exil, diesmal in
Manchester, und jetzt das hier.
    Ein leises Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. »Avanti«, rief sie und machte Anstalten, dem Eintretenden
zu öffnen. Doch da ging die Tür schon auf, und eine Frau, die ihre Mutter hätte
sein können, betrat den Raum. Sie war klein und ein wenig korpulent, hatte ein
rundes Gesicht mit rosiger Haut. Ihr Haar trug sie in einem hochgetürmten Nest
aus ineinander verflochtenen Zöpfen und Locken, eine Frisur, die Caterina an
eine Aufführung von Cherubinis Medea erinnerte, die
sie vor vielen Jahren im Teatro Massimo in Palermo gesehen hatte; der
Kostümbildner hatte Medea offensichtlich mit Medusa verwechselt und der
Sopranistin einen schlechtsitzenden Schlangenhelm auf den Kopf gesetzt, dessen
schwankendes Gewimmel der Darbietung sehr zugutekam, weil es die Aufmerksamkeit
des Publikums vom Gesang ablenkte. Im Gegensatz zu denen der Sängerin von
damals bewegten sich die Schlangen dieser Frau hier nicht.
    »Dottoressa Pellegrini?«, sagte sie, und Caterina fragte sich, wer
denn sonst. Die Frau reichte ihr mit dünnem Lächeln die Hand. »Ich bin Roseanna
Salvi, die stellvertretende Direktorin der Stiftung.« Caterina wusste, dass
Dottor Asnaldi, der ehemalige Direktor, vor einem Jahr gegangen war und dass
bis auf weiteres seine Assistentin die Stiftung leitete.
    »Wie freundlich von Ihnen, sich zu mir zu bemühen, [23]  Dottoressa«,
sagte Caterina ehrerbietig und ergriff die dargebotene Hand.
    Als fürchte sie, man wolle ihr die Hand wegnehmen, zog Dottoressa
Salvi diese sogleich wieder zurück und verschränkte beide Hände hinter dem
Rücken.
    »Möchten Sie sich nicht setzen?«, meinte Caterina, als sei dies von
jeher ihr Büro, mit einem Wink zu ihrem Schreibtisch. Erst jetzt bemerkte sie,
dass es nur den einen Stuhl dahinter in diesem Zimmer gab.
    Caterina versuchte es mit einem ansteckenden Lächeln, doch die Miene
ihres Gegenübers blieb starr. »Dottoressa«, sagte sie, »nehmen Sie doch bitte
Platz.«
    Die Hände immer noch hinter dem Rücken, sagte die Frau: »Ich
fürchte, ich muss Sie korrigieren, Dottoressa.«
    Jetzt kommt’s, dachte Caterina. Revier abgrenzen, den Neuling
zurechtweisen, die Hackordnung klarstellen: so viel zur Solidarität unter
Frauen. Sie schwieg mit wohlwollendem Gesichtsausdruck.
    »Es handelt sich um ein Missverständnis. Ich habe keinen
Doktortitel. Nichts dergleichen.« Die Miene der Nicht-Dottoressa entspannte
sich, und die Hände kamen wieder zum Vorschein.
    »Ah«, sagte Caterina und fasste mitfühlend den Arm ihres Gegenübers.
»Das hat mir niemand gesagt. Man hat mir überhaupt nichts Näheres gesagt.« Und
da sie Frauen waren, und um die Situation zu entspannen, fügte sie hinzu:
»Sagen Sie doch einfach Caterina zu mir. Nicht Dottoressa.«
    Signora Salvi lächelte, und die Schlangen um ihren Kopf verwandelten
sich in Locken. »Und ich heiße Roseanna«, stellte sie sich vor.
    [24]  »Können wir ›du‹ zueinander sagen?«, setzte Caterina hinzu.
»Schließlich arbeiten wir zusammen.« Caterina wusste nicht, inwieweit das
stimmte, aber zumindest arbeiteten sie im selben Haus und waren somit
Kolleginnen.
    Wie meist nach dem Ende der Förmlichkeiten entspannte sich die Lage.
Mit einem Blick zur Tür meinte Signora Salvi: »Gehen wir in
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