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Himmelstiefe

Himmelstiefe

Titel: Himmelstiefe
Autoren: Daphne Unruh
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Gregor, der erfolgreiche Unternehmer im makellosen weißen Hemd, beide eine teure Designertasse in der Hand. Wie so oft staunte ich, dass ich von ihrer Attraktivität und Ausstrahlung überhaupt nichts abbekommen hatte. Jetzt kam ich mir tatsächlich wie ein Vogel vor, nur nicht am Himmel, sondern verirrt in einem Treppenhaus, der durch eine Glasscheibe auf ein fremdes und unverständliches Leben starrte. Die Vorstellung erzeugte einen dumpfen Schmerz und Leere in mir. Das war mein Zuhause, das waren meine Eltern, die es mir an nichts fehlen ließen, das war mein Leben, nur ich war nicht richtig da.
    „Morgen, Kira, Liebes!“, rief Delia, als sie mich sah. „Soll ich dir Dein Croissant noch mal aufbacken?“
    „Danke, nein, ich bin spät dran.“
    Mein Vater warf mir einen kurzen stechenden Blick zu, der mich einmal vom Scheitel bis zur Sohle scannte, verzog keine Miene und vertiefte sich wieder in seine Zeitung. Er mochte meinen Aufzug nicht, ausgewaschene Klamotten und im Haar nur ein Einweckgummi. So trat die Tochter eines Konzernchefs nicht öffentlich in Erscheinung. Und er hasste Trägheit und Unpünktlichkeit. Ein Tag begann mit zehn Kniebeugen und einem ordentlichen Frühstück. Erfolg war nicht einfach Glück, man brauchte dafür Fitness, Energie und Selbstdisziplin. Seine Signale waren immer klar und deutlich. Machte man etwas richtig oder brachte Leistung, war er aufmerksam und zugewandt. Benahm man sich in seinen Augen falsch oder ließ sich gehen, wurde man nicht beachtet.
    Ich schlüpfte in meine schnürsenkelfreien Chucks und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
    Einige Minuten später erhob sich vor mir das große graue und massive Schulgebäude, unverwüstlich und wie gebaut für die Ewigkeit. Ich schritt durch das große steinerne Tor. Der Schulhof war bereits verdächtig leer. Ich lungerte nicht gern eng gedrängt und tatenlos in Grüppchen zwischen kahlen Mauern herum, während die Siebtklässler um einen herum flitzten, als wären sie auf einem Spielplatz. Ins Klassenzimmer Reinschneien, wenn alle schon saßen und einen anstarrten, war genauso blöd. Deshalb kam ich gern fünf bis drei Minuten vor Unterrichtsbeginn, während alle ihr Zeug für die Stunde aus ihren Rucksäcken zogen und auf den Platz vor sich schmissen oder sortierten. Ich zückte mein Handy, tatsächlich, Punkt Acht. Heute war ich zu spät. Der Weg schien sich während der knapp sieben Ferienwochen verlängert zu haben. Ich nahm zwei Stufen auf einmal. Es war ein dummes Gefühl, sich zu beeilen, obwohl man das Ziel gar nicht erreichen wollte.
    Die letzten Klassentüren auf den langen Fluren schlossen sich, auch die Tür zu meinem Raum. Ich rannte die letzten paar Meter und bekam die Klinke zu fassen, bevor sie einschnappte. Irgendjemand zog wie besessen an der anderen Seite. Er musste mich doch bemerken! Dann gab er plötzlich nach. Fast hätte ich mir jetzt das Türblatt gegen den Kopf gehauen. Mein Fuß war zum Glück weiter vorn und federte es ab. Ich trat ein, zischte: „Idiot!“ … und blickte in das Gesicht eines Typen, den ich nicht kannte.
    Mein Gehirn unternahm mehrere Operationen gleichzeitig. Doch, das war mein Raum. Alle, die da saßen, gehörten zu meiner Klasse. Am Lehrertisch stand unsere Klassenlehrerin, Frau Zuleit. Ich war richtig. Alles war korrekt. Aber vor mir dieser Fremde, groß aufragend, blonde Haare, braungebrannt, lächelnd, beschämend gut aussehend, grüne Augen, die mich mit einem Zauberbann zu belegen schienen. Ich konnte mich nicht von der Stelle rühren und starrte ihn an.
    „Hi“, sagte er. Endlich entschied sich mein Blut, weiter durch meine Adern zu fließen. Trotzdem, die Stimmbänder blieben gelähmt. Ohne seinen Gruß zu erwidern, versuchte ich, die volle Kontrolle über die Motorik meiner Beine wieder zu erlangen, drückte mich an ihm vorbei und stolperte so weit weg wie möglich, in die letzte Reihe. Aber da war kein Platz mehr frei. Von Ferne hörte ich Frau Zuleits Stimme lauter werden: „ …Zu spät kommen würde ich im Abschlussjahr also nicht empfehlen.“ Den Anfang hatte ich verpasst. Mein Gehör war wohl vorübergehend ausgefallen.
    Am Rand meines Blickfeldes bewegte sich etwas. Endlich entdeckte ich Luisa. Sie winkte aus einer mittleren Bank am Fenster. Sie hatte einen Platz neben sich freigehalten. Was für ein Glück. Ich machte kehrt und ließ mich auf den Stuhl fallen. Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich wischte ihn beiläufig mit dem Ärmel ab und kramte
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