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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling
Autoren: N Vosseler
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Zimmern über dem Laden hatte sie sechs Kinder empfangen, zur Welt gebracht und großgezogen, zwei davon auch dort wieder verloren – einen ihrer Söhne an der Staublunge, die er sich in der Zinnmine geholt und sich über Monate hinweg Stück für Stück aus dem Leib gehustet hatte. Ein Radius von fünf Yards reichte aus, um eine Karte von Sues Leben zu zeichnen.
    Jeden Morgen öffnete sie pünktlich ihren Laden und schloss ihn abends wieder, sechs Tage die Woche. Nur sonntags, am Tag des Herrn, blieb die blaugestrichene Tür mit den Butzenscheiben verschlossen. Sie kannte jeden im Dorf, und jeder kannte sie, und was es an Klatsch und Tratsch in diesem Mikrokosmos gab, lief am hölzernen Tresen ihres Ladens zusammen, verteilte sich von dort weiter in die Küchen und Stuben und den einzigen Pub des Dorfes – wer ein Kind erwartete, wer im Sterben lag, wer wem schöne Augen machte und bei wem der Haussegen schief hing.
    Doch langsam, kaum merklich, begannen sich die Zeiten zu ändern. Eine Zinnmine nach der anderen war erschöpft und wurde aufgegeben, hinterließ Arbeiter, die für andere Tätigkeiten nicht mehr zu gebrauchen waren, weil sie sich darin krankgeschuftet hatten, und andere, für die es keine Möglichkeit zum Broterwerb gab in einer Gegend, in der die Menschen mehr schlecht denn recht von dem lebten, was ihre kargen Felder hergaben, ihre Schafe und Kühe, von dem, was der Fischfang einbrachte.
    Allerlei Wundersames hatte man nun auch schon vom Herrenhaus von Oakesley Manor gehört, seit es vor über einem Jahrzehnt eine neue Ladyschaft bekommen hatte. Wenig war übrig geblieben vom feudalen, aber ländlich geprägten Lebensstil der früheren Bewohner. Nicht genug, dass ihre Ladyschaft mehrmals im Jahr mit einem vollbepackten Wagen ins ferne London fuhr und sich dort wochenlang vergnügte, unbesorgt um die Kümmernisse und Sorgen ihrer Pächter. Jedes Mal kehrte sie mit Kisten und Schachteln zurück, die neue Kleider aus Samt und Seide enthielten, mit Spitzen, Stickereien und Posamenten, kleine Hüte, die von künstlichen Blüten und Bändern überquollen, elegante Schuhe mit hohen Absätzen. Und nun hatte sich dort auch noch Besuch eingefunden, wichtiger Besuch, wenn man den Erzählungen der Mädchen und Burschen vom Landsitz Glauben schenken durfte, ein Gentleman, der die Augen der Stubenmädchen glänzen ließ, wenn sie von ihm erzählten, und von dem die Burschen ebenso abfällig wie neidvoll sprachen. Geradezu märchenhaft muteten diese Erzählungen an, wenn darin der Orientale vorkam, mit dunkler Haut und einem Turban auf dem Kopf, der in dessen Diensten stand. Nein, sagte sich Sue Ansell kopfschüttelnd immer wieder, wenn sie davon hörte, früher hätte es so etwas hier nicht gegeben!
    Deshalb blieb ihr an diesem grauen, stürmischen Novembertag beinahe das Herz stehen, als sie mit ihrer frisch gestärkten blauen Schürze wie jeden Morgen den Schlüssel in der Ladentür von innen umdrehte – einmal, zweimal –, und besagter Orientale vor ihr stand, in hellen Reiterhosen und langer Jacke mit einem kleinen Stehkragen, eine goldene Kordel quer über dem Oberkörper, wie das Rangabzeichen eines fremden Regimentes. Wie Lots Frau stand Sue da, den Mund sperrangelweit offen, und starrte diesen Menschen an, mit seiner braunen Haut und dem graumelierten Bart, und der Krönung an Exotik, dem leuchtend roten Turban, der sie mit seinen Wickelungen an eine Zwiebel erinnerte. Am liebsten hätte sie nach ihrem Mann gerufen, den sie im Lagerraum hinten kramen hörte, doch sie brachte keinen Laut heraus. Und dann sprach sie dieser Fremde auch noch an, in fehlerlosem, wenn auch nicht akzentfreiem Englisch, und verneigte sich höflich vor ihr.
    »Guten Morgen, Madam, verzeihen Sie die frühe Störung – aber führen Sie zufällig auch Zündhölzer?«
    » Zündhölzer ?« Sues Stimme klang heiser. Sie klappte ein paarmal den Mund auf und wieder zu, ehe ein Ruck durch ihren Körper ging und sie energisch ihre ohnehin makellose Schürze glatt zog.
    » Natürlich führen wir Zündhölzer«, entrüstete sie sich und fand in ihrer seit Jahren geübten Rolle der Geschäftsfrau Sicherheit. Sie eilte hinter die Theke, kramte in einem Fach unter der Tischplatte und legte eine Schachtel davon vor ihren befremdlichen Kunden, erleichtert, sich hinter ihrem hölzernen Schutzwall verschanzen zu können.
    Der Fremde bezahlte mit einem Sixpence und verzichtete mit einer großzügigen Handbewegung auf sein Wechselgeld, fragte dann
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