Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling
Autoren: N Vosseler
Vom Netzwerk:
Zustand zweifelhaften Glücks zu versetzen. Dieser Mann war nun am Tag zuvor zu Grabe getragen worden, hier in der steinigen, toten Erde Cornwalls, und Helena wusste nicht, ob sie trauern oder erleichtert sein sollte.
    Bitterkeit erfüllte sie, wenn sie an die Armut dachte, die sie erfahren hatten, die sie auch in dieser kargen Gegend ausgrenzte, während ihr Vater Hunderte von Pfund unwiederbringlich in irgendwelche geistigen Luftschlösser investiert hatte und sie beide nun am existentiellen Abgrund zurückließ. Die Angst um ihre und Jasons Zukunft schnürte ihr die Kehle zu, und gegen ihren Willen überließ sie sich dieser Schwäche. Sie tröstete sich damit, dass nur Achilles, das Meer und der Wind um ihre Tränen wussten und sie nicht verraten würden.
    »Sie sind eine bemerkenswerte Reiterin.«
    Mit einem Aufschrei riss sie an den Zügeln, als Achilles sich erschrocken aufbäumte und bockte, in einem Anflug von Panik ausbrach. Für einen Augenblick verlor sie das Gleichgewicht, drohte aus dem Sattel zu rutschen, fing sich rasch wieder, gestattete dem verwirrten Pferd eine paar schnelle, stolpernde Schritte, ehe sie ihn ausbremste und energisch wendete, in die Gischt hinein, die sie an seiner zitternden Hinterhand aufspritzen spürte.
    »Sind Sie verrückt?«, schrie sie den fremden Reiter an, der wie aus dem Nichts hinter ihr aufgetaucht war. »Was zum Teufel fällt Ihnen ein, sich so anzuschleichen?« Wütend schob sie die Haarsträhnen aus dem Gesicht, die ihr vor die Augen gefallen waren und ihr die Sicht nahmen.
    Im ersten Moment glaubte sie, einen Zentauren vor sich zu haben. Sie sah kaum, wo der Leib des Pferdes aufhörte und die Gestalt des Reiters in seinem dunklen Rock begann. Der Wind blies ihm das etwas zu lange Haar aus dem scharf geschnittenen, südländisch anmutenden Gesicht mit dem dichten Oberlippenbart – nachtschwarz war es, wie das schimmernde Fell seines Hengstes, der Achilles reglos und mit geblähten Nüstern musterte. Helena fühlte sich an die zahllosen Raben und Krähen erinnert, die in den verkrüppelten Bäumen hockten und mit ihrem heiseren Hab Acht, hab Acht aufflogen, das einem einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Der Reiter verbeugte sich leicht im Sattel.
    »Ich bitte Sie um Verzeihung, Miss. Es lag nicht in meiner Absicht, Sie und Ihr Pferd zu erschrecken und Sie dadurch in Gefahr zu bringen.« Seine Stimme war tief, mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent darin, als hätte er lange Jahre im Ausland verbracht. »Aber ich dachte, ich könnte Ihnen vielleicht behilflich sein.« Er hielt ihr ein zusammengefaltetes Taschentuch hin, eher auffordernd denn mitfühlend.
    Helena schoss das Blut ins Gesicht, peinlich berührt, dass ein Fremder beobachtet hatte, wie sie weinte, sie hilflos und schwach gesehen hatte. Übertrieben energisch warf sie ihr Haar zurück, das der Wind ihr immer wieder ins Gesicht wehte, und setzte eine stolze Miene auf.
    »Vielen Dank«, gab sie herablassend zurück, »aber das ist nicht nötig!«
    »Wie Sie meinen,« entgegnete er vergnügt und steckte das Tuch wieder ein. Lässig stützte er sich auf den Sattelknauf und musterte Helena eindringlich, als hätte er alle Zeit der Welt. Sie fühlte sich unbehaglich unter seinen forschenden, beinahe begutachtenden Blicken. Auf Anhieb hatte sie bemerkt, dass die Kleidung des Fremden elegant und modisch war, gut geschnitten und aus teuren Stoffen.
    Um ihr äußeres Erscheinungsbild hatte sie sich nie weiter gekümmert – Kleidung hatte praktisch zu sein und sie nicht allzu sehr einzuengen; ein kleiner Riss mehr oder weniger, staubige Reiterstiefel oder Schlammspritzer auf ihren Rocksäumen waren nie etwas gewesen, das ihr Kopfzerbrechen bereitet hatte. Doch nun sah sie sich mit anderen Augen: das Trauerkleid aus kratzigem Wollkrepp, das ursprünglich einer Base Margarets gehört hatte, mit seinen weiten Röcken mittlerweile völlig unmodern und ihr an den Ärmeln zu kurz, ihr wildes, unordentliches Haar, ihre geröteten und rissigen Hände, die Reitgerte und Zügel umklammert hielten. Sie verspürte den brennenden Wunsch, ein bisschen mehr herzumachen als das. Beschämt wandte sie ihren Blick ab und fuhr sich verstohlen mit dem Handrücken über die nassen Wangen.
    »In der Tat, bemerkenswert«, fasste der Fremde das Ergebnis seiner Betrachtung schließlich zusammen, und seine Stimme ließ Helena aufsehen. In seinen fast schwarzen Augen stand ein Funkeln, und eine Spur überheblichen Amüsements glitt über
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher