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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling
Autoren: N Vosseler
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Ursache in den Ereignissen dieses Nachmittags und der Tage zuvor hatten. Sie ließ die Zügel locker, um sich mit dem Handrücken über die brennenden, nassen Wangen zu fahren, und Achilles, froh, ihrer heute so harten Hand entkommen zu sein, schlug einen gemächlicheren Schritt ein, blieb schließlich stehen, um Atem in seine müden Lungen zu schöpfen. Helena griff nicht ein; mit einem bitteren Zug in ihrem jungen Gesicht starrte sie auf das Meer hinaus, dessen monoton wütendes Rauschen sie Tag und Nacht begleitete, seit sie die griechische Heimat und mit ihr ihre Mutter und ihren Vater, wie sie ihn gekannt hatte, verloren hatte.
    Eine einzige bitterkalte Januarnacht hatte alles zerstört. Arthur und Celia waren im Theater gewesen, anschließend bei einem Souper. Da Celia über leichtes Unwohlsein geklagt hatte, waren sie noch vor dem zweiten Gang aufgebrochen und hatten die Droschke in die Broadwick Street genommen. Frischer Schnee war gefallen, der die Straßen und die Häuser mit ihren Giebeln und Mauervorsprüngen wie gezuckert wirken ließ. Nichts davon verriet, dass sich unter seiner samtigen Oberfläche spiegelndes Eis gebildet hatte. Celia glitt auf den Stufen zur Eingangstür aus, und obwohl Arthur sie aufzufangen versuchte, stürzte sie. Mit dem Schrecken schien das Schlimmste überstanden zu sein, doch noch während Margaret, die treue Seele, die Celia seit ihrer Flucht aus dem goldenen Käfig ihres Elternhauses begleitet hatte, bis nach Griechenland und wieder zurück, sie auszukleiden und für die Nacht herzurichten begann, setzten Wehen ein, vier Wochen vor der Zeit.
    Hastig in Decken gehüllt, wurde eine aus dem Schlaf aufgeschreckte und verwirrte Helena zur Schwester der Köchin gebracht, die zwei Straßenzüge weiter in Diensten stand, damit das kleine Mädchen nicht die qualvollen Schreie ihrer Mutter mit anhören musste, die Stunde um Stunde die nächtliche Stille des Hauses zerrissen. Als der silbrig blaue Morgen über der so still unter ihrer Schneedecke liegenden Stadt anbrach, war Arthur Lawrence Vater eines Sohnes – und Witwer.
    Nach Celias Tod verfiel er zusehends, trank zu viel und aß zu wenig, kümmerte sich weder um den winzigen, schreienden Säugling noch um die in Fassungslosigkeit erstarrte Helena. Nichts schien ihn mehr berühren zu können. Erst das Drängen seiner Freunde, er sollte sich der Kinder wegen wieder verheiraten, riss ihn aus seiner Lethargie. Innerhalb einer Woche hatte er einen Nachmieter für das Haus gefunden, Leinwand, Pinsel und Farben verbrannt, die notwendige Habe gepackt und London verlassen.
    Sie fuhren in Richtung Westen, nach Cornwall, woher Margaret stammte. Das windschiefe Haus aus rauem Stein, abseits der Küstenstädtchen Boscastle und Padstow, wurde ihr neues Heim, und während Margaret für die beiden Kinder sorgte, vergrub sich Arthur zwischen den Klassikern der Antike, auf der fieberhaften Suche nach Trost in seiner Trauer, auf der Flucht aus einer für ihn unerträglich gewordenen Welt.
    Jenes eine Bild, ein paar wenige Schmuckstücke aus Korallen und venezianischen Glasperlen und schattenhafte Erinnerungen an Celias nach Lavendel und Petitgrain duftenden Berührungen waren alles, was Helena von ihrer Mutter geblieben war. Doch wenigstens hatte sie sich diese bewahren können, waren sie nicht so grausam zerstört worden wie die an ihren Vater, wie er einst gewesen war. Von Jahr zu Jahr fiel es Helena schwerer, sich an den Vater zu erinnern, den sie einmal gehabt hatte, wie er unter südlicher Sonne an der Staffelei gestanden und mit mal energischen, mal zärtlichen Bewegungen diese wunderbaren Bilder auf die Leinwand gezaubert hatte, sodass sie unwillkürlich den Atem angehalten hatte, um die Magie dieser Augenblicke nicht zu stören; wie er mit ihr gescherzt und in den Wellen umhergetollt, sie emporgehoben hatte, der Sonne entgegen, bis sie sie fast berühren zu können glaubte. Diesen Vater hatte es von einem Tag auf den anderen nicht mehr gegeben; ihn hatte eine unbegreifliche Macht zusammen mit Celia von ihr fortgeholt und einen verhärmten Mann zurückgelassen, vorzeitig vergreist, umgeben vom süßlichen Geruch des Alkohols, der seine Sinne allmählich abtötete. Helena hatte ihn dafür gehasst, dass er ihnen nur wenig mehr als Gleichgültigkeit entgegenbrachte. Oft erschütterte er brüllend und türenschlagend das Haus in seinen Grundfesten, um wenig später beschämt seine Hände auf ihre hellen Köpfe zu legen und sie damit in einen
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