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Hier hat s mir schon immer gefallen

Titel: Hier hat s mir schon immer gefallen
Autoren: Annie Proulx Melanie Walz
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Zeichen der Genesung. An der Wand hing ein großes Farbfoto des kleinen Verl. Er saß auf einer Bank, hatte ein knubbeliges Bein untergeschoben, und das andere Bein zeigte eine schneeweiße Socke und ein winziges Schühchen. Er hielt einen Plüschbären am Ohr. Offenbar hatten sie ihn in das Fotostudio des Wal-Mart-Supermarkts mitgenommen. Dakotah hatten sie auch einen Abzug geschickt.
    Bonita servierte ein Festessen: Brathuhn, Kartoffelbrei, grüne Bohnen in Sahne, frischgebackene Brötchen und zum Dessert einen Pekankuchen, den Mrs. Hicks geschickt hatte, wie sie bemerkte. Sie sagte irgendetwas über Mrs. Hicks, doch Dakotah achtete nicht darauf. Es war ein schreckliches Essen. Keiner von ihnen brachte etwas herunter. Jeder schob das Essen auf seinem Teller hin und her, und mit heiserer, tränenerstickter Stimme sagten sie, wie gut alles aussehe. Vielleicht um mit gutem Beispiel voranzugehen, aß Verl einen Bissen Kartoffelpüree, den er sofort ausspucken musste. Schließlich standen sie auf. Bonita deckte die Speisen mit Haushaltsfolie ab und stellte sie in den Kühlschrank.
    »Wir essen es morgen«, sagte sie.
    In unerträglichem Schweigen saßen sie bei ausgeschaltetem Fernseher im Wohnzimmer.
    »Dein altes Zimmer ist vorbereitet«, sagte Bonita. In der stillen Küche summte der Kühlschrank wie Wind in Telegrafendrähten. »Weißt du, die Hicks konnten sich die Fahrt nach Washington nicht leisten, um Sash dort zu besuchen. Aber sie wollen wissen, was mit ihm los ist. Sie können nichts in Erfahrung bringen. Sie haben immer wieder angerufen. Aber jedes Mal wird die Leitung unterbrochen, oder sie landen bei jemandem, der ihnen nicht weiterhelfen kann. Du musst ihnen sagen, was los ist. Es ist schrecklich für sie, nicht Bescheid zu wissen.«
    Sie konnte ihnen nicht sagen, wie viel schrecklicher es war, wenn man Bescheid wusste.
     
    Am nächsten Morgen war es ein bisschen leichter; den heißen Kaffee brachten sie alle herunter.Trauer, Kummer undVerlust wurden durch den heißen schwarzen Kaffee ein wenig gelindert. Doch essen konnte immer noch keiner. Gegen Mittag ließ Dakotah Verl und Bonita allein und ging am Kiefernhang spazieren. Zwischen gefällten Bäumen standen neue Strommasten.
    Abends tauchte das Willkommensessen wieder auf, in Bonitas Mikrowellenherd aufgewärmt, den sie mit Dakotahs Geld gekauft hatte. Endlich aßen sie, sehr langsam. Leise sagte Dakotah, das Huhn schmecke gut. Es schmeckte nach nichts. Bonita machte neuen Kaffee - schlafen konnte sowieso keiner von ihnen - und schnitt Mrs. Hicks’ Pekankuchen an. Verl starrte das goldene Dreieck auf seinem Unterteller an, doch er schien außerstande zu sein, die Gabel zu heben.
    Die Küchentür knarrte, und Otto undVirginia Hicks kamen vorsichtig herein. Bonita forderte sie auf, sich zu setzen, und holte ihnen Kaffee. Mrs. Hicks’ rote Augen blickten zu Dakotah. Ihre Hand zitterte, und die Kaffeetasse klapperte gegen den Unterteller. Unvermittelt schob sie Tasse und Untertasse weg.
    »Was ist mit Sash?«, stieß sie hervor. »Du hast ihn gesehen. Wir haben den Brief vom Militär, dass er nach Hause kommt. Sie wollen uns nicht sagen, wie es um ihn steht. Keiner will uns was sagen. Er meldet sich auch nicht.Vielleicht kann er es gar nicht. Was ist mit Sash?«
    Bonita sah zu Dakotah, öffnete den Mund, als wollte sie etwas sagen, und schloss ihn wieder.
    Die Stille breitete sich aus wie ein regengesättigter Fluss, schlug gegen die Zimmerwände, stieg ihnen über die Köpfe. Dakotah dachte an Ezells Taxi, das langsam an den verwaisten Ranches vorbeifuhr. Sie spürte, wie die Furcht der Hicks sich zu Gewissheit zu verdichten begann. Kummer legte sich um das verängstigte Ehepaar wie die Schlinge eines Seils, jenes Seils, das sie alle umspannte. Sie musste das Seil der Hicks fest anziehen und sie an die Schmerzen gewöhnen, bis sie nichts mehr spürten, sie musste ihnen klarmachen, dass Liebe nichts einbrachte.
    »Sash«, sagte sie zuletzt so leise, dass die anderen sie fast nicht hören konnten, »Sash steckt bis zum Hals in der Patsche.«
    Und noch während sie sprach, wusste sie, dass ihr eigener Abstieg in den dunklen, nassen Schlamm begonnen hatte.

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Fine Just theWay It Is. Wyoming Stories 3 bei Scribner, New York.
    Verlagsgruppe Random House
     
     
    1. Auflage
    Copyright © der Originalausgabe 2008 Dead Line Ltd. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
    Luchterhand Literaturverlag,
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