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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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eine richtige Heulsuse geworden und verdarb ihm und meiner Mutter tatsächlich den Spaß am Mardi Gras. Und bald kam ich auch darüber hinweg. Zumindest lernte ich im Laufe der Jahre, meine Angst zu verbergen.
    Nun, und was sah ich jetzt, als die Fackelträger marschierend und tanzend mit ihren wunderschönen, rußenden Fackeln näher kamen und als das Dröhnen der Trommeln mit dem Nahen der ersten der großen, stolzen High-School-Bands stärker wurde?
    Nur ein verrücktes, hübsches Spektakel, nicht wahr? Zum einen tauchten die modernen Straßenlaternen alles in viel helleres Licht; die altmodischen Fackeln wurden nur noch um der alten Zeiten willen mitgeführt, nicht als Lichtspender, und die Jungen und Mädchen, die hier trommelten, waren nichts als hübsche Jungen und Mädchen mit strahlenden Gesichtern.
    Dann kam unter Jubelgeschrei der Wagen des Königs, ein mächtiger Pappthron, hoch, prunkvoll und prächtig geschmückt, und der Mann selbst war recht hübsch anzusehen mit der juwelenbesetzten Krone, der Maske und der langlockigen Perücke. Welche Extravaganz, all dieser Samt. Und selbstverständlich schwenkte er sein Zepter völlig gefaßt, als sei dies nicht eines der bizarrsten Spektakel auf der Welt.
    Harmlos, das Ganze, absolut harmlos. Nicht düster und furchtbar, und niemand würde gleich hingerichtet werden. Plötzlich zerrte die kleine Mona Mayfair an meiner Hand. Sie wollte wissen, ob sie auf meiner Schulter sitzen dürfe. Ihr Daddy habe gesagt, er sei jetzt müde.
    Natürlich durfte sie. Das Schwierigste war, sie hoch zu heben und mich dann wieder aufzurichten; der alten Pumpe tat es nicht besonders gut – ich wäre beinahe gestorben! -, aber ich schaffte es, und sie amüsierte sich prächtig, quiekte und griff nach den Glasperlen und Plastikbechern, die von den vorüberziehenden Prunkwagen auf uns herabregneten.
    Und wie hübsch und altmodisch diese Prunkwagen waren, ganz wie in unserer Kindheit, meinte Bea, ganz ohne diesen neuartigen mechanisch oder elektrisch beweglichen Firlefanz. Nur hübsche, verschlungene Nachbildungen zart zitternder Bäume und Blumen und Vögel, prachtvoll mit funkelnder Folie überzogen. Die Männer der »Meute« rackerten sich nach Kräften ab und warfen Flitterkram und Schund in das Meer der emporgereckten Hände.
    Endlich war es vorbei. Mardi Gras war zu Ende. Ryan half Mona, von meinen Schultern herunter zu klettern, und schimpfte mit ihr, weil sie mich belästigt hatte; ich protestierte und erklärte, es habe mir Spaß gemacht.
    Langsam gingen wir heimwärts. Aaron und ich schlossen uns den anderen an, und als die Party zu Hause mit Champagner und Musik weiterging, geschah dieses merkwürdige Ereignis. Es kam so:
    Ich machte meinen gewohnten Spaziergang durch den dunklen Garten und erfreute mich an den schönen weißen Azaleen, die jetzt überall blühten, an den hübschen Petunien und den anderen einjährigen Pflanzen, die die Gärtner frisch in die Rabatten gesetzt hatten. Ich kam zu der großen Myrte am hinteren Ende des Rasens und sah, daß sie endlich auch wieder auszuschlagen begann. Sie war von winzigen grünen Blattknospen bedeckt, obgleich sie im Mondschein natürlich noch immer skeletthaft kahl aussah.
    Eine Zeitlang blieb ich unter dem Baum stehen und schaute zur First Street hinüber; ein paar Nachzügler von der Avenue kamen noch am Eisenzaun vorbei. Ich glaube, ich überlegte gerade, ob ich es riskieren könnte, hier hinten, wo niemand mich erwischen würde, eine Zigarette zu rauchen. Dann fiel mir ein, daß ich natürlich gar keine hatte: Aaron und Tante Viv hatten sie auf Anordnung des Arztes alle weggeworfen.
    Wie auch immer – ich hing meinen Gedanken nach und genoß die Frühlingssonne, als ich mitbekam, daß eine Mutter und ein Kind draußen vorbei hasteten: das Kind hatte mich unter dem Baum stehen sehen und mit dem Finger auf mich gedeutet, und es hatte zu seiner Mutter etwas über »den Mann da« gesagt.
    Der Mann.
    Es überkam mich mit jäher Heiterkeit: Ich war »der Mann«. Ich hatte mit Lasher den Platz getauscht. Ich war jetzt der Mann im Garten. Ich war jetzt ohne Frage der dunkelhaarige Mann in der First Street, und über die Ironie, die darin lag, mußte ich laut lachen.
    Kein Wunder, daß der Dreckskerl gesagt hatte, er liebe mich. Das ist das Mindeste. Er hat mir mein Kind, meine Frau und meine Geliebte gestohlen und mich hier an seiner Stelle stehenlassen. Er hat mir mein Leben genommen und mir dafür seinen Spukplatz gegeben. Warum
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