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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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    1
     
     
    Der Doktor wachte auf und hatte Angst. Er hatte wieder von dem alten Haus in New Orleans geträumt. Er hatte die Frau in dem Schaukelstuhl gesehen. Er hatte den Mann mit den bra u nen Augen gesehen.
    Und sogar jetzt, in diesem stillen Hotelzimmer über der Stadt New York spürte er die alte, beunruhigende Verwirrtheit. Er hatte wieder mit dem braunäugigen Mann gesprochen. Ja, helfen Sie ihr. Nein, das ist doch nur ein Traum. Ich will da raus.
    Der Doktor setzte sich im Bett auf. Um ihn herum war Stille, nur das leise Rauschen der Klimaanlage war zu hören. Warum dachte er daran, in dieser Nacht, in diesem Hotelzimmer im »Parker Meridien«? Für eine Weile konnte er das Gefühl des alten Hauses nicht abschütteln. Er sah die Frau wieder – ihren gebeugten Kopf, ihren leeren Blick. Fast hörte er das Summen der Insekten vor den Fliegengittern an der alten Veranda. Und der Mann mit den braunen Augen sprach, ohne die Lippen zu bewegen. Eine Wachspuppe, der Leben eingeflößt…
    Nein. Aufhören.
    Er stand auf und tappte lautlos über den Teppichboden, bis er vor den dünnen weißen Vorhängen stand, und er spähte hi n aus auf die Dächer da draußen, die schwarz vor Ruß waren, und die trüben Neonreklamen, die vor Ziegelmauern flacke r ten. Das Licht des frühen Morgens schimmerte hinter den Wolken über der öden Betonfassade gegenüber. Keine Hitze hier, die an den Kräften zehrte. Kein einschläfernder Duft von Rosen und Gardenien.
    Allmählich wurde sein Kopf klar.
    Er dachte wieder an den Engländer an der Bar im Foyer. Das hatte alles wieder hochkommen lassen – wie er dem Barke e per gegenüber erwähnt hatte, daß er eben aus New Orleans komme und daß diese Stadt eine wirkliche Spukstadt sei. Der Engländer war ein liebenswürdiger Mann, ein echter Gentl e man der alten Schule, wie es schien, in seinem schmal g e schnittenen Baumwollkreppanzug mit der goldenen Uhrkette an der Westentasche (wo sah man solche Männer heutzutage noch?); ein Mann mit dem präzisen, melodischen Tonfall eines britischen Bühnenschauspielers und blitzenden, alterslosen Augen.
    Der Doktor hatte sich ihm zugewandt und sagte: »Ja, Sie h a ben recht, was New Orleans angeht, ganz bestimmt. Ich habe in New Orleans selbst einen Geist gesehen, und zwar vor gar nicht so langer Zeit…« Dann war er verlegen verstummt. Er hatte in seinen Bourbon gestarrt, in das geschmolzene Eis, auf die scharfen Brechungen des Lichts im Boden des Kristallgl a ses.
    Das Gesumm der Fliegen im Sommer, der Geruch von Med i zin. So viel Thorazin? Könnte da ein Irrtum vorliegen?
    Aber der Engländer hatte respektvolle Neugier gezeigt. Er ha t te den Doktor eingeladen, mit ihm zu Abend zu essen; er sammle solche Geschichten, hatte er gesagt. Einen Auge n blick lang hatte der Doktor sich versucht gefühlt. Der Kongreß hatte eine Pause eingelegt, und er mochte diesen Mann, ve r spürte unmittelbares Vertrauen zu ihm. Und das Foyer des »Parker Meridien« war ein hübscher, fröhlicher Ort voller Licht, Bewegung und Menschen. So weit entfernt von diesem düst e ren Winkel in New Orleans, von der traurigen alten Stadt, in deren unablässiger, karibischer Hitze die Geheimnisse schwärten.
    Aber der Doktor konnte diese Geschichte nicht erzählen.
    »Wenn Sie es sich je anders überlegen, rufen Sie mich an«, hatte der Engländer gesagt. »Mein Name ist Aaron Lightner.« Er hatte dem Doktor eine Karte mit dem Namen einer Organ i sation gegeben. »Man könnte sagen, wir sammeln Geisterg e schichten – wenn sie wahr sind, meine ich.«
     
    DIE TALAMASCA
    Wir wachen
    Und wir sind immer da
     
    Ein kurioses Motto.
    Ja, und das hatte alles wieder hochkommen lassen. Der En g länder mit dieser eigenartigen Visitenkarte, der Engländer, der morgen abreiste und an die Westküste fuhr, um sich mit einem Mann zu treffen, der kürzlich ertrunken und wieder ins Leben zurückgeholt worden war. Der Doktor hatte in den New Yorker Zeitungen von dem Fall gelesen – einer von diesen Typen, die klinisch tot gewesen waren und dann zurück kehrten, nac h dem sie »das Licht« gesehen hatten.
    Sie hatten sich über den Ertrunkenen unterhalten, er und der Engländer. »Er behauptet, er habe jetzt übersinnliche Kräfte, wissen Sie«, sagte der Engländer, »und das interessiert uns natürlich. Sieht anscheinend Bilder, wenn er einen Gege n stand mit bloßen Händen berührt. Wir nennen das Psychom e trie.«
    Der Doktor war fasziniert gewesen. Er hatte selbst schon von ein
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