Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
alles erzählt. Und Aaron war der einzige Mensch, dem er es je erzählen würde.
    Aber er brauchte diese stille, kontemplative Beziehung zu dem weißen Blatt, um seiner Seele wirklich vollständig Ausdruck zu geben. Es war schön, hier zu sitzen und nur gelegentlich durch die Spitzengardinen zu den Passanten hinauszuschauen, die zur St. Charles Avenue unterwegs waren, um sich dort die Venus-Parade anzuschauen. Nur noch zwei Tage bis Mardi Gras.
    Das einzige, was ihm nicht gefiel, war der Umstand, daß er manchmal in der Stille die Trommeln hören konnte. Das war gestern passiert, und es war ihm ein Greuel.
    Als er vom Schreiben genug hatte, nahm er Große Erwartungen vom Regal, setzte sich auf das Ledersofa vor dem Kamin und fing an zu lesen. Bald würde Eugenia kommen, dachte er sich, und ihm etwas zu essen bringen. Vielleicht würde er es dann essen, vielleicht auch nicht.

 
    54
     
     
    »Dienstag, den 27. Februar, Mardi Gras.
    Ich werde niemals glauben, daß das, was ich beim zweiten Mal gesehen habe, eine echte Vision war. Ich behaupte jetzt und für alle Zukunft, daß es Lashers Werk war. Es waren nicht die Mayfair-Hexen, denn sie sind nicht hier, nicht an die Erde gefesselt, sie warten nicht darauf, durch die Tür zu gehen – obgleich dies eine Lüge sein kann, die er ihnen während ihres jeweiligen Lebens aufgebunden haben mag, ein Bestandteil des Paktes, mit dem er sich ihrer Zusammenarbeit versichert hat.
    Ich glaube, daß sie alle mit ihrem Tode entweder aufhörten zu existieren oder zu größerer Weisheit gelangten. Und niemand hatte die Absicht, bei irgendeinem Plan auf dieser Welt zu kooperieren. Allenfalls wurden Versuche unternommen, derlei zu vereiteln.
    Ein solcher Versuch war es beispielsweise, als Deborah und Julien das erstemal zu mir kamen. Sie verständigten mich von dem Plan und forderten mich auf, einzuschreiten und Rowan so zu beeinflussen, daß Lasher und seine Vorspiegelungen sie nicht verführen könnten. Und als sie mir in San Francisco sagten, ich solle nach Hause fahren, da versuchten sie erneut, mich zu einer Intervention zu veranlassen.
    Das glaube ich, weil es eine andere plausible Erklärung nicht gibt. Ich hätte mich niemals dazu bereit gefunden, das Kind zu zeugen, durch das dieses gierige Monstrum hervor kommen wollte. Und selbst wenn ich an etwas so Grauenhaftem beteiligt gewesen wäre, so wäre ich beim Erwachen nicht von einem Gefühl eifriger Zielstrebigkeit beseelt gewesen, sondern von absoluter Panik und von tiefem Abscheu gegen die, die versucht hatten, mich so zu benutzen.
    Nein. Das alles war Lashers Werk, diese letzte halluzinatorische Vision höllischer, an die Erde gefesselter Seelen und ihrer häßlichen, ignoranten Moralität. Das Verräterische daran – und ich begreife nicht, weshalb Aaron das nicht einsieht – war natürlich das Erscheinen der Nonnen in der Vision. Denn die Nonnen gehörten nun überhaupt nicht dazu: Und die Trommeln des Comus – die auch nicht. Sie stammen aus den Ängsten meiner Kindheit.
    Das ganze höllische Spektakel war den Ängsten und Schrecknissen meiner Kindheit entnommen, und Lasher vermengte alles mit den Mayfair-Hexen, um eine Hölle für mich zu erschaffen, die mich tot und ertrunken und verzweifelt zurücklassen würde.
    Wenn sein Plan gelungen wäre, dann wäre ich natürlich gestorben, und seine Vision der Hölle wäre verschwunden; vielleicht, nur vielleicht, hätte ich in irgendeinem Leben danach die wahre Erklärung gefunden.
    Aber es ist schwierig, über diesen letzten Teil nach zu denken. Denn ich bin nicht gestorben. Und jetzt habe ich – was immer sie wert sein mag – eine zweite Chance, Lasher zu stoppen, einfach indem ich lebe und hier bin.
    Schließlich weiß Rowan ja, daß ich hier bin, und ich kann nicht glauben, daß Rowans Liebe zu mir spurlos gestorben sein soll. Das widerspricht allem, was meine Sinne mir sagen.
    Im Gegenteil – Rowan weiß nicht nur, daß ich auf sie warte, sie will auch, daß ich warte. Deshalb hat sie mir das Haus gegeben. Auf ihre Art hat sie mich gebeten, hier zu bleiben und weiter an sie zu glauben.
    Meine schlimmste Befürchtung jedoch ist die, daß ihr dieses gierige Monstrum jetzt, wo es im Fleische lebt, etwas antun wird. Irgendwann wird es einen Punkt erreichen, wo es sie nicht mehr braucht, und dann wird es versuchen, sie los zu werden. Ich kann nur hoffen und beten, daß sie es vernichtet, ehe dieser Zeitpunkt gekommen ist, obwohl – je länger ich darüber nachdenke,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher