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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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später, am neunundzwanzigsten Dezember, war aus der Schweiz ein Telegramm von Rowan gekommen, in dem sie erklärte, daß sie eine Zeitlang in Europa bleiben werde; Anweisungen bezüglich ihrer persönlichen Angelegenheiten würden folgen. Das Telegramm enthielt eines der Codewörter, die nur der Erbin des Vermächtnisses und der Firma Mayfair und Mayfair bekannt waren. Am selben Tag hatte man die Instruktion empfangen, eine beträchtliche Summe auf ein Konto bei einer Bank in Zürich zu überweisen. Auch hier waren die korrekten Codewörter benutzt worden. Mayfair und Mayfair hatten keinen Grund, Rowans Anordnungen in Frage zu stellen.
     
    Am 6. Januar, als Michael von der Intensivstation in ein normales Privatzimmer verlegt worden war, kam Ryan zu Besuch, sichtlich verwirrt und voller Unbehagen über die Mitteilungen, die er zu machen hatte. Er benahm sich so taktvoll wie möglich.
    Rowan werde »auf unbestimmte Zeit« wegbleiben. Ihr genauer Aufenthaltsort sei nicht bekannt; sie habe aber durch eine Pariser Anwaltskanzlei häufig Kontakt mit Mayfair und Mayfair.
    Das Eigentumsrecht am Haus in der First Street sollte vollständig auf Michael übergehen. Niemand in der Familie dürfe sein umfassendes und exklusives Anrecht an dem Besitz in Frage stellen. Das Haus solle bis zu seinem Tode in seinen – und nur in seinen – Händen bleiben und dann den Gesetzen entsprechend an das Vermächtnis zurückfallen.
    Was Michaels Lebenshaltungskosten angehe, so solle er im Rahmen der Rowan zur Verfügung stehenden Mittel Blankovollmacht erhalten. Mit anderen Worten, er bekam soviel Geld, wie er brauchte oder verlangte.
    Das meiste von dem, was Ryan sagte, hörte er gar nicht. Es war eigentlich nicht nötig, Ryan oder sonst jemandem die ganze Ironie darzulegen, die in dieser Wendung der Ereignisse lag, oder ihm zu erzählen, wie seine Gedanken, von Medikamenten vernebelt, sich tagein, tagaus mit den Ereignissen und Wendungen seines Lebens beschäftigten, von frühester Erinnerung an.
    Wenn er die Augen schloß, sah er sie alle wieder, in Flammen und Rauch: die Mayfair-Hexen. Er hörte das Dröhnen der Trommeln, er roch den Gestank der Flammen, und er hörte Stellas durch dringendes Gelächter.
    Dann entglitt ihm wieder alles.
    Die Stille kehrte zurück, und er war wieder in seiner frühen Kindheit, und er ging an jenem längst vergangenen Mardi-Gras-Abend mit seiner Mutter die First Street hinunter und dachte: Ah, was für ein schönes Haus.
    Ryan erklärte, die Familie hoffe, daß Michael in dem Haus wohnen bleiben werde. Sie hofften, Rowan werde zurück kehren, und irgendeine Art von Aussöhnung werde sich bewerkstelligen lassen. Dann schien er nicht weiter zu wissen. Verlegen und offensichtlich tief bedrückt sagte er mit rauher Stimme, die Familie könne »einfach nicht verstehen, was da passiert ist«.
    Eine Anzahl möglicher Antworten kam Michael in den Sinn. Aus der Distanz betrachtet, stellte er sich vor, wie er mysteriöse Bemerkungen machte, die den alten Familienlegenden reiche Nahrung bieten würden, obskure Anspielungen auf die Dreizehn und auf die Tür und auf den Mann, Bemerkungen, die vielleicht noch auf Jahre hinaus erörtert werden würden, auf grünen Rasenflächen, bei Dinners und in Beerdigungskapellen. Aber in Wahrheit war es undenkbar, so etwas zu tun. Nein, es kam entscheidend darauf an, daß er weiterhin schwieg.
    Und dann hörte er sich selbst mit außerordentlich fester Stimme sagen: »Rowan wird zurück kommen.« Danach sagte er gar nichts mehr.
    Als er eine Weile geschwiegen hatte, verlor Ryan schließlich die Fassung. Er könne nicht begreifen, inwiefern er und die Familie bei Rowan versagt hätten. Sie habe angefangen, ihnen gewaltige Summen Geldes aus den Händen zu nehmen. Die Pläne für Mayfair Medical seien auf Eis gelegt worden. Er wisse einfach nicht, was passiert sei.
    »Es war nicht eure Schuld«, sagte Michael. »Ihr habt nichts damit zu tun.« Und als Ryan lange Zeit einfach so dagesessen hatte, sichtlich beschämt über seinen Ausbruch, verwirrt und niedergeschlagen, wiederholte er: »Sie wird zurück kommen. Wartet nur ab. Es ist noch nicht vorbei.«
     
    Am zehnten Februar wurde Michael aus dem Krankenhaus entlassen. Er war immer noch sehr schwach, was er als höchst frustrierend empfand, aber der Zustand seines Herzmuskels hatte sich bemerkenswert gebessert, und seine allgemeine Gesundheit war gut. Aaron holte ihn mit einer schwarzen Limousine ab.
    Es war ein klarer, warmer Tag.
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