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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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Kurz nach Weihnachten hatte es noch einmal bitterlich gefroren, und dann hatte es mehrere sintflutartige Regenfälle gegeben, aber jetzt war es wie im Frühling, und rosa und rote Azaleen blühten überall im Garten. Nach dem Frost hatte der Olivenbaum sein wunderschönes Laub zurück bekommen, und an den Eichen sproß neues, helles Grün.
    Jedermann war glücklich, erklärte der Fahrer, weil Mardi Gras vor der Tür stand. Dieser Tage würden auch die Paraden beginnen.
    Michael spazierte im Garten umher. Neue Bananenstauden sprossen an den dunklen, erfrorenen Stümpfen, und sogar die Gardenien kamen zurück; sie warfen ihre braunen Blätter ab, und dunkel glänzendes neues Blattwerk brach aus den Knospen hervor.
    Das Haus selbst war blitzsauber und restlos aufgeräumt.
    Die Prozession der Besucher dauerte tagelang. Bea kam mit Lily, dann kamen Cecilia und Clancy und Pierce, Randall kam mit Ryan, der diverse Dokumente unterschrieben haben wollte, und andere erschienen, deren Namen er sich nur noch mit Mühe merken konnte. Manchmal sprach er mit ihnen, manchmal nicht.
    Aber er sah, daß die Verwandten zutiefst beunruhigt waren. Sie wirkten demütig und zurück haltend, vor allem aber ratlos. Im Haus zeigten sie sich unbehaglich, manchmal sogar etwas nervös.
    Ganz anders Michael. Das Haus war leer und, was ihn betraf, sauber. Er kannte jede kleine Reparaturarbeit, die gemacht worden war, jedes Stück Putz und Holzwerk, das man restauriert hatte. Es war sein größtes Werk, bis hinauf zu den neuen kupfernen Regenrinnen und bis hinunter zu den Kiefernholzdielen, die er eigenhändig abgeschliffen und gebeizt hatte. Er fühlte sich wohl hier.
    »Ich sehe mit Freuden, daß du diese greulichen Handschuhe nicht mehr trägst«, sagte Beatrice. Es war Sonntag; sie war zum zweitenmal hier und sie saßen zusammen im Schlafzimmer.
    »Ich brauche sie nicht mehr«, sagte Michael. »Es ist sehr merkwürdig, aber nach diesem Unfall im Pool sind meine Hände wieder ganz normal.«
    »Du hast keine Visionen mehr?«
    »Nein. Vielleicht habe ich diese Gabe nie richtig benutzt. Vielleicht habe ich sie nicht zur rechten Zeit benutzt. Also wurde sie mir wieder weg genommen.«
    »Klingt wie ein Segen.« Bea versuchte sich ihre Verwirrung nicht anmerken zu lassen.
    »Ist nicht mehr so wichtig«, sagte Michael.
    Aaron brachte sie zur Tür. Michael ging oben an der Treppe vorbei, und zufällig hörte er, wie Bea in diesem Augenblick zu Aaron sagte: »Er sieht zehn Jahre älter aus.« Sie weinte tatsächlich, und sie flehte Aaron an, ihr doch zu erzählen, wie sich diese Tragödie zugetragen habe. »Ich will gern glauben«, sagte sie, »daß dieses Haus verflucht ist. Es ist erfüllt vom Bösen. Sie hätten hier gar nicht erst einziehen dürfen. Wir hätten es verhindern müssen. Sie sollten ihn dazu bringen, daß er auszieht.«
    Michael ging zurück in sein Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich.
    Als er an Deirdres alter Kommode in den Spiegel schaute, stellte er fest, daß Bea recht hatte. Er sah tatsächlich älter aus. Die grauen Haare an seinen Schläfen waren ihm noch gar nicht aufgefallen, und auch sonst schimmerte überall ein wenig Grau durch. Vielleicht hatte er auch ein paar Falten im Gesicht, die früher nicht dagewesen waren. Vielleicht sogar eine ganze Menge. Vor allem um die Augen.
    Plötzlich lächelte er. Er hatte gar nicht bemerkt, was er heute nachmittag angezogen hatte. Jetzt sah er, daß es ein Smokingjackett aus dunklem Satin mit samtenen Revers war, das Bea ihm ins Krankenhaus geschickt hatte. Tante Viv hatte es ihm herausgelegt. Man stelle sich vor, Michael Curry, der Junge aus dem Irish Channel, trägt so ein Ding, dachte er.
    »Eh bien, monsieur«, sagte er und bemühte sich, so zu klingen wie Julien, als er ihn in San Francisco auf der Straße gehört hatte. Sogar sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert. Er fand, er habe jetzt einen Hauch von Juliens Resignation.
    Er ging die Treppe hinunter, langsam, wie der Arzt es ihm empfohlen hatte, und betrat die Bibliothek. In dem Schreibtisch dort war nichts mehr gewesen, seit man ihn nach Carlottas Tod ausgeräumt hatte, und so hatte er ihn in Besitz genommen, und hier bewahrte er sein Notizbuch auf. Sein Tagebuch.
    Es war das Tagebuch, das er bei seinem ersten Besuch in Oak Haven begonnen hatte. Er führte es immer noch – fast jeden Tag trug er hier etwas ein, denn nur hier konnte er zur Sprache bringen, was er in Wirklichkeit empfand.
    Natürlich hatte er Aaron
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