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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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desto klarer wird mir, wie schwer es ihr fallen wird, das zu tun.
    Rowan hat immer versucht, mich zu warnen: Sie habe eine Neigung zum Bösen, die ich nicht habe. Natürlich bin auch ich nicht so unschuldsvoll, wie sie immer dachte. Und sie ist nicht wirklich böse. Aber sie ist eine brillante Wissenschaftlerin reinsten Wassers. Sie ist verliebt in die Zellen, aus denen dieses Ding besteht, das weiß ich – von einem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus natürlich, und sie studiert sie. Sie studiert seinen ganzen Organismus – wie gut er funktioniert und wie er sich durch die Welt bewegt -, und sie konzentriert sich dabei auf die Frage, ob er tatsächlich eine verbesserte Version des Menschen darstellt, und wenn ja, was diese Verbesserung bedeutet und wie sie letzten Endes zum Guten genutzt werden kann.
    Wieso Aaron das nicht akzeptieren kann, weiß ich auch nicht. Er ist sehr mitfühlend, aber hartnäckig unverbindlich. Die Talamasca ist in Wirklichkeit eine Bande von Mönchen; er fleht mich zwar immer an, ich solle mit ihm nach England kommen, aber das ist einfach unmöglich. Ich könnte niemals bei ihnen leben; sie sind mir zu passiv und zu theoretisch.
    Davon abgesehen ist es absolut notwendig, daß ich hier bleibe und auf Rowan warte. Schließlich sind erst zwei Monate vergangen, und es kann Jahre dauern, bis Rowan alle Fragen beseitigt. Sie ist erst dreißig, und das ist heutzutage sehr jung.
    Wie ich sie kenne – und ich bin der einzige, der sie wirklich kennt -, bin ich davon überzeugt, daß Rowan letzten Endes zu wahrer Weisheit gelangen wird.
    Das also ist meine Einschätzung dessen, was geschehen ist. Die Mayfair-Hexen als ein an die Erde gefesselter Hexenzirkel existieren nicht und haben nie existiert. Der Pakt war eine Lüge. Was ich in meinen ersten Visionen gesehen habe, waren gute Wesen, die mich hierher schickten, weil sie hofften, ich würde die Herrschaft des Bösen beenden.
    Sind sie jetzt verärgert? Haben sie sich von mir abgewendet, weil ich versagt habe? Oder akzeptieren sie, daß ich mich mit den Mitteln, die mir zur Verfügung standen, bemüht habe? Sehen sie vielleicht, was ich sehe – daß Rowan zurück kehren wird und daß die Geschichte noch nicht zu Ende ist?
    Ich kann es nicht wissen. Was ich aber weiß, ist dies: Es lauert nichts Böses in diesem Haus, und es schweben keine Seelen durch die Zimmer. Im Gegenteil, es wirkt alles wunderbar sauber und hell, ganz so, wie ich es immer haben wollte.
    Ich bin langsam durch die Dachzimmer spaziert und habe dort interessante Dinge gefunden – zum Beispiel Anthas gesammelte Kurzgeschichten, und die sind wirklich faszinierend. Ich sitze dann oben in dem Zimmer unter dem Dach und lese im Sonnenschein, der durch die Fenster hereinstrahlt, und ich spüre Antha rings um mich herum – nicht als Geist, sondern als die lebendige Gegenwart einer Frau, die diese zarten Sätze schrieb und versuchte, ihrer Qual und ihrem Kampf Ausdruck zu verleihen, aber auch ihrer Freude über die kurze Zeit der Freiheit in New York.
    Wer weiß, was ich sonst noch da oben finden werde. Vielleicht klemmt Juliens Autobiographie hinter irgendeinem Dachbalken.
    Wenn ich nur mehr Energie hätte und nicht alles so langsam angehen müßte, wenn das Umherspazieren nicht so eine Strapaze wäre…
    Natürlich kann man sich keinen schöneren Ort zum Spazierengehen denken. Das habe ich immer gewußt.
    Der alte Rosengarten erwacht in diesen warmen Tagen wieder zu neuem Leben; erst gestern hat Tante Viv mir erzählt, sie habe immer davon geträumt, im Alter Rosen zu pflegen: Sie werde sich von nun an darum kümmern, und der Gärtner brauche ihr nur ein bißchen zur Hand zu gehen. Der scheint sich an »die alte Miss Belle« erinnert zu fühlen, die sich früher um diese Rosen kümmerte, und er stopft ihr den Kopf voll mit den Namen der verschiedenen Arten.
    Ich finde es wunderbar, daß sie hier so glücklich ist.
    Ich selbst ziehe ja die wilderen, weniger gepflegten Blumen vor. Vorige Woche, als sie die Fliegengitter an Deirdres alter Veranda wieder angebracht haben und ich im neuen Schaukelstuhl saß, da sah ich, daß das Geißblatt wieder mit voller Kraft über das neue Holzgeländer und an dem Schmiedeeisen hinaufkriecht – ganz so wie damals, als wir herkamen.
    Und draußen auf den Rabatten, unter den prachtvollen Kamelien, kehren die wilden Jalapen zurück, und auch die kleine Lantana, die wir früher »Eier mit Speck« nannten, weil sie diese orangegelben und braunen
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