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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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saß?
    »Es ist ein schöner Tag, nicht wahr, Deirdre?« Ah, die Brise hier, so duftig. Der Geruch der Gardenien war plötzlich betä u bend, aber er liebte ihn trotzdem. Nur für einen Moment schloß er die Augen.
    Verabscheute sie ihn? Lachte sie über ihn? Wußte sie übe r haupt, daß er da war? Ein paar graue Strähnen zogen sich durch ihr Haar, das sah er jetzt. Ihre Hand war kalt und fühlte sich unangenehm an.
    Die Schwester kam heraus; sie hatte einen blauen Umschlag in der Hand, einen Schnappschuß.
    »Der ist von deiner Tochter, Deirdre. Siehst du? Sie ist jetzt vierundzwanzig Jahre alt, Deirdre.« Sie hielt das Photo so, daß der Arzt es auch sehen konnte. Ein blondes Mädchen auf einer großen weißen Yacht. Ihr Haar wehte im Wind. Hübsch, sehr hübsch. »In der San Francisco Bay, 1983.«
    Nichts veränderte sich im Gesicht der Frau. Die Schwester bürstete ihr das schwarze Haar aus der Stirn. Sie hielt dem Doktor das Bild vors Gesicht. »Sehen Sie das Mädchen? Sie ist jetzt auch Ärztin!« Sie nickte besserwisserisch mit dem Kopf. »Sie ist schon Assistenzärztin und wird eines Tages Doktor der Medizin sein, genau wie Sie, und das ist die Wah r heit.«
    War das möglich? War die junge Frau nie mehr nach Hause gekommen, um ihre Mutter zu besuchen? Er empfand plötzlich Abneigung gegen sie. Doktor der Medizin wird sie, wahrhaftig.
    Er begann den Tanten zu mißtrauen.
    Die große, die ihm seine Schecks ausstellte – »Miss Carl« – war immer noch Rechtsanwältin, obgleich sie über siebzig sein mußte. Den Weg zwischen ihrem Büro in der Carondolet Street und dem Haus legte sie mit dem Taxi zurück, weil sie die hohen Holzstufen der St.-Charles-Bahn nicht mehr erkli m men konnte. Fünfzig Jahre lang, hatte sie ihm einmal erzählt, als er sie am Tor empfangen hatte, war sie mit der St.-Charles-Bahn gefahren.
    »O ja«, sagte die Schwester einmal nachmittags, als sie Dei r dre sehr langsam, sehr behutsam das Haar bürstete. »Miss Carl ist die Clevere. Arbeitet für Richter Fleming. Eine der e r sten Frauen, die je ihr Examen an der juristischen Fakultät von Loyola gemacht haben. Sie war siebzehn, als sie nach Loyola ging.«
    Miss Carl sprach niemals mit der Patientin – der Doktor hatte es jedenfalls nie gesehen. Und es war die Füllige, »Miss Na n cy«, die niederträchtig zu ihr war. So empfand der Doktor es jedenfalls.
    »Es heißt ja, Miss Nancy hätte nie viel Gelegenheit gehabt, etwas zu lernen«, tratschte die Schwester. »War immer zu Hause, um für die anderen zu sorgen. Früher war ja auch die alte Miss Belle noch hier.«
    »Miss Nancy« hatte etwas Mürrisches, beinahe Gewöhnliches an sich. Gedrungen sah sie aus, herunter gekommen, immer mit einer Schürze – aber mit der Schwester sprach sie in di e sem herablassenden, gekünstelten Tonfall. Und Miss Nancys Mund war immer leicht höhnisch verzogen, wenn sie Deirdre ansah.
    Und dann war da noch Miss Millie, die älteste von allen, e i gentlich eine Art Cousine – eine klassische alte Lady in schwarzer Seide und Schnürschuhen. Sie kam und ging, und nie war sie ohne ihre abgetragenen Handschuhe und dem kleinen schwarzen Strohhut mit dem Schleier. Für den Arzt hatte sie ein fröhliches Lächeln, für Deirdre einen Kuß. »Das ist mein armes, liebes Schätzchen«, pflegte sie mit trillernder Stimme zu sagen.
    Eines Nachmittags hatte er Miss Millie angetroffen, als sie auf den gesprungenen Steinplatten am Schwimmbecken stand.
    »Maß weiß nicht mehr, wo man anfangen soll, Doktor«, hatte sie traurig gesagt.
    Es kam ihm nicht zu, sie zur Rede zu stellen, aber es ging ihm ans Herz, als er dieses Eingeständnis der Tragödie vernahm.
    »Und wie gern ist Stella hier geschwommen«, sagte die alte Frau. »Stella hat das Becken gebaut, Stella, die so viele Pläne und Träume hatte. Solche Partys hat Stella gegeben. Ja, ich weiß es noch – Hunderte waren im Haus, Tische überall auf dem Rasen, und Kapellen haben gespielt. Sie sind noch zu jung, Doktor, um sich an diese belebende Musik zu erinnern. Stella hat auch die Plattenwege hier anlegen lassen, rings um den Pool. Sehen Sie, wie die alten Platten dort vorn und an der Seite entlang…« Sie brach ab und deutete an der Läng s seite des Hauses entlang zu der fernen alten Hofterrasse, die von Unkraut ganz überwuchert war. Es war, als könne sie nicht weiter sprechen. Langsam blickte sie hinauf zu dem h o hen Dachbodenfenster.
    Aber wer ist Stella? wollte er fragen.
    »Armer Liebling
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