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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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ster aus der darüber wuchernden Lantana hervor.
    Aber einst hatten Kinder hier gespielt.
    Irgendein Junge oder Mädchen hatte das Wort »Lasher« in den dicken Stamm einer riesigen Myrte geschnitzt, die hinten am Zaun wuchs. Die tiefen Kerben waren so verwittert, daß sie in der wächsernen Rinde weiß schimmerten. »Der Pei t scher?« Ein seltsames Wort… Und eine hölzerne Schaukel baumelte noch immer am Ast einer entfernt stehenden Eiche.
    Die Südflanke des Hauses sah von dort aus fast behäbig aus, aber auch überwältigend schön mit den blumigen Ranken, die alle zusammen an geschlossenen grünen Fensterläden vorbei bis zu den Zwillingskaminen über dem dritten Stock hinaufkle t terten. Der dunkle Bambus rasselte im Wind an verputztem Mauerwerk. Die glänzenden Bananenstauden wuchsen so hoch und dicht, daß sie wie ein Dschungel bis an die Ziege l wand heranreichten.
    Es war wie seine Patientin, dieses alte Haus – schön, aber vergessen von der Zeit, fern von allem, was drängte.
    Ihr Gesicht wäre immer noch hübsch gewesen, wenn es nicht so völlig leblos gewesen wäre. Sah sie die zarten Purpurwo l ken der Glyzinien, die vor den Fliegengittern bebten, das wimmelnde Gewirr der anderen Blüten? Konnte sie zwischen den Bäumen hindurch bis zu dem Haus mit den weißen Sä u len auf der anderen Straßenseite sehen?
    Einmal war er mit ihr und der Schwester nach oben gefahren, in dem altmodischen, aber funktionstüchtigen kleinen Aufzug mit dem Messinggitter und dem abgetretenen Teppich. Nichts hatte sich in Deirdres Miene verändert, als der kleine Gitterk a sten seinen Aufstieg begonnen hatte. Ihn machte es unruhig, die mahlende Maschinerie zu hören. Er konnte sich den Motor nur als etwas Schwarzes und Klebriges und Uraltes vorstellen, überzogen von Staub.
    Natürlich hatte er den alten Arzt im Sanatorium befragt.
    »Ich weiß noch, als ich in Ihrem Alter war«, hatte der alte Arzt gesagt, »da wollte ich sie alle heilen. Ich wollte mit Parano i kern diskutieren und Schizophrene in die Realität zurück h o len, und ich wollte Katatoniker aufwecken. Geben Sie ihr nur jeden Tag diese Spritze, mein Sohn. Da ist nichts mehr an Geist vorhanden. Wir tun einfach unser Bestes, um zu verhi n dern, daß sie sich dann und wann aufregt, verstehen Sie? Wir dämpfen die Erregungszustände.«
    Erregungszustände? Das war der Grund für eine so starke Medikation? Selbst wenn man die Spritzen morgen absetzte, würde es einen Monat dauern, bis die Wirkung restlos abg e klungen wäre. Und die verwendeten Mengen waren so hoch, daß sie einen anderen Patienten hätten töten können. Eine solche Dosierung mußte man langsam aufbauen.
    Wie konnte irgend jemand den wahren Zustand der Frau ke n nen, wenn diese Medikation schon so lange beibehalten wu r de? Wenn er nur einmal ein Elektroenzephalogramm anfertigen könnte…
    Er hatte etwa einen Monat mit dem Fall zu tun gehabt, als er sich die Akten kommen ließ. Es war eine Routineanfrage. Niemand hatte Notiz davon genommen. Den ganzen Nachmi t tag saß er an seinem Tisch im Sanatorium und plagte sich mit den krakeligen Handschriften von Dutzenden anderer Ärzte, den unbestimmten, widersprüchlichen Diagnosen herum – Manie, Paranoia, totale Erschöpfung, Sinnestäuschungen, psychotischer Schub, Depressionen, Suizidversuch. Die S a che reichte anscheinend zurück bis in die Teenagerzeit des Mädchens. Nein, noch weiter. Einer hatte sie wegen »D e menz« untersucht, als sie zehn Jahre alt gewesen war.
    Was stand hinter dieser Krankengeschichte? Irgendwo in dem Berg von Gekritzel fand er heraus, daß sie mit achtzehn ein Mädchen geboren, es weg gegeben, unter »schwerer Par a noia« gelitten hatte.
    Hatten sie ihr deshalb Elektroschockbehandlungen und Ins u linschocks verabreicht? Was hatte sie den Schwestern ang e tan, die wieder und wieder wegen »körperlicher Angriffe« die Arbeit aufgekündigt hatten?
    Einmal war sie »weggelaufen«, war »zwangsweise wieder eingewiesen« worden. Dann fehlten Seiten, waren ganze Ja h re undokumentiert. »Irreversibler Hirnschaden« hatte man 1976 diagnostiziert. »Patientin nach Hause entlassen, Thor a zin zur Verhinderung von Zitteranfällen und manischen Z u ständen verordnet.«
    Es war ein häßliches Dokument, das keine Geschichte erzäh l te, keine Wahrheit offenbarte. Und es nahm ihm schließlich den Mut. Hatte nicht schon eine Legion von anderen Ärzten mit ihr gesprochen, wie er es jetzt tat, wenn er neben ihr auf der Seitenveranda
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