Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Intimes in der Art, wie er so dicht bei der stummen Deirdre stand, wie er sich ihr zuneigte.
    Aber als der Doktor auf die Veranda trat, war kein Besuch da. Und in den vorderen Zimmern fand er auch niemanden.
    »Hören Sie, ich habe hier vor einer Weile einen Mann ges e hen«, sagte er zu der Schwester, als sie hereinkam. »Er sprach mit Miss Deirdre.«
    »Ich hab’ ihn nicht gesehen«, antwortete die Schwester beilä u fig.
    Miss Nancy, die in der Küche beim Erbsenschälen war, als er sie fand, starrte ihn lange an und schüttelte dann mit vorg e recktem Kinn den Kopf. »Ich habe niemanden hereinkommen hören.«
    Na, da sollte doch…! Aber er mußte bekennen, daß es wirklich nur ein kurzer Augenblick gewesen war, ein flüchtiges Bild unter dem Fliegengitter.
    Nein, er hatte den Mann gesehen.
    »Wenn du nur mit mir sprechen könntest«, sagte er zu Dei r dre, als sie allein waren. Er bereitete die Injektion vor. »Wenn du mir nur sagen könntest, ob du Besuch haben möchtest, ob es wichtig ist…« Ihr Arm war so dünn. Als er sie ansah, die Nadel gezückt, starrte sie ihn an!
    »Deirdre?«
    Sein Herz pochte.
    Die Augen rollten nach links, und sie blickte wieder vor sich hin, stumm und unbeteiligt wie zuvor. Und die Hitze, an der der Doktor schon Gefallen gefunden hatte, wurde plötzlich drückend. Ja, dem Doktor wurde es ganz leicht im Kopf, als wolle er in Ohnmacht fallen. Hinter dem geschwärzten, staub i gen Fliegengitter schien der Rasen sich zu bewegen.
    Nun war er in seinem ganzen Leben noch nicht in Ohnmacht gefallen, und als er darüber nachdachte – als er versuchte, darüber nachzudenken -, da begriff er, daß er mit dem Mann gesprochen hatte, ja, der Mann war hier, nein, jetzt nicht mehr, aber er war gerade hier gewesen. Sie waren mitten in einer Unterhaltung gewesen, und jetzt hatte er den Faden verloren, oder – nein, das war es auch nicht, er konnte sich plötzlich nur nicht mehr erinnern, wie lange sie miteinander gesprochen hatten, und es war so sonderbar, daß sie die ganze Zeit hier mit einander geredet hatten und er sich nicht entsinnen kon n te, wie es angefangen hatte!
    Plötzlich bemühte er sich, einen klaren Kopf zu bekommen und sich den Burschen genauer anzusehen, aber was hatte der Mann nur gerade gesagt? Es war alles sehr verwirrend, weil niemand da war, mit dem er hätte reden können, niemand außer ihr, aber ja, er hatte eben zu dem braunhaarigen Mann gesagt: »Natürlich, wenn man die Injektionen absetzt…«, und die absolute Richtigkeit seiner Position stand außer Zweifel. Der alte Arzt – »Ein Narr, jawohl!« sagte der braunhaarige Mann – würde einfach zuhören müssen!
    Das war gräßlich, das alles, und dann die Tochter in Kalifornien…
    Er schüttelte sich. Er stand auf, war auf der Veranda. Was war geschehen? Er war im Korbsessel eingeschlafen. Er hatte geträumt. Das Summen der Bienen wurde beunruhigend laut in seinen Ohren, und der Duft der Gardenien schien plötzlich betäubend wie eine Droge. Er schaute über das Geländer in den Hof zu seiner Linken. Hatte sich dort etwas bewegt?
    »Ich muß nach Hause«, sagte er laut zu niemandem. »Ich fühle mich nicht ganz wohl; ich glaube, ich sollte mich hinl e gen.«
    Der Name des Mannes. Wie war er gleich? Gerade hatte er ihn noch gewußt, ein so bemerkenswerter Name – ah, also das bedeutete das Wort, Sie sind… Sehr schön eigentlich – aber halt. Es fing wieder an. Er würde es nicht zulassen!
    »Miss Nancy!« Er stand aus dem Sessel auf.
    Seine Patientin starrte geradeaus, unverändert, das schwere Smaragdpendant schimmerte auf dem Nachthemd. Die ganze Welt war erfüllt von grünem Licht, von zitternden Blättern, der verschwommenen Wolke der Bougainvilleen.
    »Ja, die Hitze«, flüsterte er. »Habe ich ihr die Injektion geg e ben?« O Gott. Er hatte tatsächlich die Spritze fallen lassen, und sie war zerbrochen.
    »Sie haben mich gerufen, Doktor?« sagte Miss Nancy. Da stand sie in der Tür zum Wohnzimmer, starrte ihn an, wischte sich die Hände an der Schürze ab. Die farbige Frau war auch da, und hinter ihr die Krankenschwester.
    »Nichts, bloß die Hitze«, murmelte er. »Ich habe sie fallen la s sen, die Nadel. Aber ich habe natürlich noch eine.«
    Wie sie ihn ansahen, ihn musterten. Ihr glaubt wohl, ich werde auch verrückt?
    Es geschah am folgenden Freitagnachmittag, daß er den Mann wiedersah.
    Der Doktor hatte sich verspätet: er hatte im Sanatorium einen Notfall gehabt. In der frühherbstlichen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher