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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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Abenddämmerung h a stete er die First Street hinauf; er wollte die Familie nicht beim Abendessen stören. Als er das Tor erreichte, rannte er.
    Der Mann stand im Schatten auf der offenen Vorderveranda. Er beobachtete den Doktor, die Arme verschränkt, die Schulter an den Verandapfeiler gelehnt, die Augen dunkel und ziemlich weit geöffnet, als sei er in Betrachtungen versunken. Groß, schlank, mit wunderbar sitzendem Anzug.
    »Ah, also da sind Sie«, murmelte der Doktor laut. Erleicht e rung durchströmte ihn. Er streckte die Hand aus, als er die Treppe hinaufkam. »Dr. Petrie ist mein Name. Nett, Sie zu sehen.«
    Und – wie soll man es beschreiben? Es war einfach kein Mann da.
    »Also, ich weiß, daß es passiert ist!« sagte er zu Miss Carl in der Küche. »Ich habe ihn auf der Veranda gesehen, und er hat sich in Luft aufgelöst.«
    »Nun, wieso ist es unsere Sache, was Sie gesehen haben, Doktor?« fragte die Frau. Seltsame Wortwahl. Und sie war so hart, diese Lady. Sie hatte nichts Schwaches an sich, ihrem Alter zum Trotz. Sehr gerade stand sie da in ihrem dunke l blauen Gabardine-Kostüm; sie funkelte ihn durch ihre Stah l bri l le an, und ihr Mund verzog sich zu einem dünnen Strich.
    »Miss Carl, ich habe diesen Mann bei meiner Patientin ges e hen. Nun ist die Patientin, wie wir alle wissen, eine hilflose Frau. Wenn eine fremde Person auf diesem Grundstück nach Belieben kommen und gehen kann…«
    Aber die Worte waren unwichtig. Entweder glaubte die Frau ihm nicht, oder der Frau war es egal. Und Miss Nancy am K ü chentisch blickte nicht einmal von ihrem Teller auf, während sie geräuschvoll das Essen auf ihre Gabel kratzte. Der Au s druck auf Miss Millies Gesicht freilich, ah, das war doch w e nigstens etwas – so offensichtlich beunruhigt war sie, die alte Miss Millie, und ihr Blick huschte von ihm zu Miss Carl und wieder zurück.
    Er war verärgert, als er in den kleinen, staubigen Aufzug stieg und auf den schwarzen Knopf in der Messingplatte drückte.
    Die Samtvorhänge waren zugezogen, und es war fast dunkel im Schlafzimmer; die kleinen Kerzen rußten in ihren roten Gl ä sern. Der Schatten der Jungfrau tanzte auf der Wand. Er kon n te den Lichtschalter nicht gleich finden. Und als er ihn fand, leuchtete nur eine einzige kleine Birne in der Lampe n e ben ihrem Bett auf. Der offene Schmuckkasten stand gleich daneben.
    Als er die Frau mit offenen Augen dort liegen sah, stockte ihm plötzlich der Atem. Ihr schwarzes Haar war über den fleckigen Kopfkissenbezug gebürstet. Ungewohnte Farbe überzog ihre Wangen.
    Bewegten sich ihre Lippen?
    »Lasher…«
    Ein Wispern. Was hatte sie gesagt? Na, Lasher, oder nicht? Der Name, den er auf dem Baumstamm und im Staub auf dem Eßtisch gesehen hatte. Und ausgesprochen hatte er den N a men auch schon anderswo gehört… Es fröstelte ihn. Sie kon n te sprechen, seine katatonische Patientin konnte tatsächlich sprechen. Aber nein, das mußte er sich eingebildet haben. Es war nur, weil er es sich so sehr wünschte – die wunderbare Veränderung passierte nicht wirklich. Sie lag in ihrer Trance wie eh und je. Genug Thorazin, um jemand anderen umz u bringen…
    Er stellte seine Tasche auf die Bettkante. Sorgfältig zog er die Spritze auf und dachte dabei, was er schon ein paarmal zuvor gedacht hatte: Wenn du es jetzt einfach nicht tust, oder wenn du die Dosis auf die Hälfte reduzierst, oder auf ein Viertel oder auf Null, und dann bei ihr sitzen bleibst und beobachtest, was passiert, und wenn dann… Plötzlich sah er sich selbst vor sich, wie er sie aufhob und aus dem Haus trug. Er sah sich, wie er sie aufs Land hinausfuhr. Sie spazierten Hand in Hand auf einem Pfad durch eine Wiese, bis sie zur Böschung des Flußufers kamen. Und dort lächelte sie, und ihr Haar wehte im Wind…
    Was für ein Unsinn. Es war halb sieben, und die Injektion war lange überfällig. Und die Spritze war bereit.
    Plötzlich stieß ihn etwas an. Dessen war er sicher, obgleich er nicht hätte sagen können, wo er gestoßen worden war. Die Beine knickten ihm ein, und er fiel hin, und die Spritze flog davon.
    Als er sich gefangen hatte, kauerte er im Halbdunkel auf den Knien und starrte auf die Staubflocken, die sich auf dem bla n ken Boden unter dem Bett gesammelt hatten.
    »Was, zum Teufel…«, sagte er laut, ehe er sich faßte. Er konnte die Injektionsspritze nicht finden. Dann sah er sie, ein paar Schritte weiter, hinter dem Schrank. Sie war zerbrochen, zermalmt, als habe jemand sie
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