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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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feuc h ten, fremdartigen Stadt. Sein Vater würde ihn verstehen. A n dererseits – nein. Sein Vater würde nur erschrecken.
    Als der Herbst zum Winter wurde, begann der Doktor von Deirdre zu träumen. Und in seinen Träumen sah er sie geheilt, von neuem Leben erfüllt, wie sie flotten Schritts und mit w e hendem Haar eine Großstadtstraße hinunterging. Hin und wieder, wenn er aus einem solchen Traum erwachte, fragte er sich unversehens, ob die arme Frau nicht gestorben sei. Wahrscheinlich genug war es.
    Als es Frühling wurde und er ein volles Jahr in der Stadt war, merkte er, daß er das Haus wiedersehen mußte. Er fuhr mit der St.-Charles-Bahn bis zur Jackson Avenue und ging von dort aus zu Fuß weiter, wie er es früher immer getan hatte.
    Es war alles noch ganz genauso: die dornige Bougainvillee in voller Blüte über den Veranden, der überwucherte Garten, der von winzigen weißen Schmetterlingen wimmelte, die Lantana mit ihren kleinen orangegelben Blüten, die sich durch den schwarzen Eisenzaun drängten.
    Und Deirdre, die in ihrem Schaukelstuhl auf der Seitenveranda saß, hinter dem durchsichtigen Schleier des rostigen Fliegengitters.
    Der Doktor fühlte bleiernen Schmerz. Er war so bekümmert, wie er es vielleicht in seinem ganzen Leben noch nicht gewesen war. Jemand muß etwas tun für diese Frau.
    Danach wanderte er ziellos umher, bis er schließlich in eine schmutzige, verkehrsreiche Straße gelangte. Eine schäbige Eckkneipe fiel ihm ins Auge. Er ging hinein, dankbar für die eisige Klimaanlage und die relative Stille: Nur ein paar alte Männer unterhielten sich mit leisen Stimmen entlang der Bar. Er ging mit seinem Drink an den letzten Holztisch ganz hinten.
    Der Zustand Deirdre Mayfairs quälte ihn. Und das Geheimnis dieser Erscheinung machte es nur noch schlimmer. Er dachte an die Tochter in Kalifornien. Ob er es wagen sollte, sie anzurufen? Von Arzt zu Arzt…
    »Aber ich habe nicht das Recht, mich da einzumischen«, flüsterte er laut. Er trank einen Schluck Bier, genoß seine Kälte. »Lasher«, flüsterte er. Was war das für ein Name? Die junge kalifornische Assistenzärztin würde ihn für verrückt halten! Er nahm noch einen großen Schluck Bier.
    Plötzlich kam es ihm so vor, als werde es warm in der Kneipe. Es war, als habe jemand die Tür geöffnet und einen Wüstenwind hereingelassen. Sogar die alten Männer, die über ihren Bierflaschen plauderten, schienen es zu merken. Er sah, wie einer von ihnen sich plötzlich mit einem schmutzigen Taschentuch durch das Gesicht wischte und dann weiterredete wie zuvor.
    Und als der Doktor sein Glas hob, sah er geradeaus vor sich den mysteriösen Mann an einem Tisch neben der Tür zur Straße.
    Dasselbe wächserne Gesicht, die selben braunen Augen. Die gleiche unauffällige Kleidung mit der seltsamen Stoffbeschaffenheit, so glatt, daß sie im gedämpften Licht matt glänzte.
    Während die Männer nebenan ihre Unterhaltung weiterführten, spürte der Doktor noch einmal das schneidende Entsetzen, das er in Deirdre Mayfairs verdunkeltem Zimmer gefühlt hatte.
    Der Mann saß ganz regungslos da und starrte ihn an. Keine fünf Schritte trennten ihn von dem Doktor. Das weiße Tageslicht von den vorderen Fenstern der Kneipe fiel ihm klar über die Schulter und beleuchtete sein Gesicht von der Seite.
    Dann, ganz unvermittelt, begann der Mann zu flirren, als sei er ein projiziertes Abbild, und er verschwand vor den Augen des Doktors. Ein kalter Luftzug ging durch die Kneipe.
    Der Barkeeper drehte sich um und hielt eine schmutzige Serviette fest, die wegfliegen wollte. Irgendwo schlug eine Tür zu. Und die Unterhaltung schien lauter zu werden. Der Doktor verspürte ein leises Pochen im Kopf.
    Keine Macht der Erde hätte ihn dazu überreden können, noch einmal an Deirdre Mayfairs Haus vorbei zugehen.
    Aber am folgenden Abend, als er zu seiner Wohnung am See fuhr, sah er den Mann wieder; er stand unter einer Straßenlaterne beim Friedhof am Canal Boulevard, und das gelbe Licht beschien ihn hell vor der kalkweißen Friedhofsmauer.
    Nur ein kurzer Blick – aber er wußte, daß er sich nicht getäuscht hatte. Er begann heftig zu zittern. Einen Moment lang war es, als könne er sich nicht mehr erinnern, wie man Auto fuhr, und dann raste er rücksichtslos und planlos weiter, als ob der Mann ihn verfolgte. Er fühlte sich erst sicher, als er seine Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte.
    Am folgenden Freitag sah er den Mann am hellichten Tag; er stand regungslos auf
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