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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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Stella.«
    Er hatte sich vorgestellt, wie Papierlampions in den Bäumen hingen.
    Vielleicht waren sie einfach zu alt, diese Frauen. Und diese junge, diese Assistenzärztin, oder was immer sie sein mochte, zweitausend Meilen weit weg…
    Miss Nancy schikanierte die stumme Deirdre. Sie sah zu, wie die Schwester mit der Patientin umherging, und dann brüllte sie der Patientin ins Ohr.
    »Heb die Füße hoch! Du weißt verdammt genau, daß du allein gehen könntest, wenn du wolltest.«
    »Mit Miss Deirdres Ohren ist alles in Ordnung«, unterbrach die Schwester sie dann gewöhnlich. »Der Doktor sagt, hören und sehen kann sie prima.«
    Einmal versuchte er Miss Nancy zu befragen, als sie oben den Korridor fegte, denn er dachte, nun ja, vielleicht würde sie aus Wut ein bißchen Licht in die Sache bringen.
    »Zeigt sich je die leiseste Veränderung bei ihr? Spricht sie jemals… und sei es nur ein einziges Wort?«
    Die Frau starrte ihn eine ganze Weile mit schmalen Augen an. Schweiß glänzte auf ihrem runden Gesicht, und ihre Nase n wurzel war schmerzlich gerötet vom Gewicht der Brille.
    »Ich werde Ihnen sagen, was ich gern mal wüßte!« antwortete sie. »Wer wird sich um sie kümmern, wenn wir nicht mehr da sind! Glauben Sie etwa, diese verwöhnte Tochter da drüben in Kalifornien wird für sie sorgen? Das Mädchen weiß ja nicht mal, wie seine Mutter heißt. Ellie Mayfair ist es, die diese Bi l der schickt.« Sie schnaubte. »Ellie Mayfair hat keinen Fuß mehr in dieses Haus gesetzt seit dem Tag, an dem das Baby geboren wurde und sie herkam, um es weg zuholen. Alles, was sie wollte, war das Baby, weil sie selbst keins kriegen konnte und sie eine Todesangst davor hatte, daß ihr Mann sie verlassen könnte. Er ist irgendein großer Anwalt da drüben. Wissen Sie, was Carl ihr gezahlt hat, damit sie das Baby nahm? Um dafür zu sorgen, daß das Mädchen nie wieder nach Hause käme? Oh, schaff sie nur weg hier – das war der Sinn der Sache. Ellie mußte ein Papier unterschreiben.« Sie lächelte bitter und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Nach Kalifornien geschickt, zu Ellie und Graham, in ein schickes Haus an der San Francisco Bay, mit einem großen Boot und allem Drum und Dran – das ist mit Deirdres Tochter passiert.« Ah, die junge Frau wußte es also gar nicht, dachte er. Aber er sagte nichts.
    »Sollen Carl und Nancy hierbleiben und sich um alles kü m mern!« redete die Frau weiter. »Das ist das alte Lied in dieser Familie. Carl soll die Schecks schreiben, und Nancy soll k o chen und putzen. Und was, zum Teufel, hat Millie je getan? Millie läuft in die Kirche und betet für uns alle. Ist das nicht großartig?«
    Sie lachte tief und häßlich auf und ging an ihm vorbei ins Schlafzimmer der Patientin, den schmierigen Besenstiel fest in der Hand.
    »Wissen Sie, eine Krankenschwester kann man ja nicht bitten, den Boden zu fegen! O nein, dazu würde sie sich nicht h e rablassen, oder? Aber hätten Sie vielleicht die Güte, mir zu sagen, wieso eine Schwester nicht fegen kann?«
    Das Schlafzimmer war durchaus sauber, anscheinend das Hauptschlafzimmer des Hauses, ein großes, luftiges Zimmer an der Nordseite. Asche im Marmorkamin. Und was für ein Bett, in dem seine Patientin schlief – eines dieser massiven Dinger, die gegen Ende des letzten Jahrhunderts gefertigt wurden, mit einem turmhohen Halbhimmel aus Walnußholz und gebauschter Seide.
    Er war froh über den Geruch von Bohnerwachs und frischem Leinen. Aber das Zimmer war vollgestopft mit gräßlichen rel i giösen Artefakten. Auf der marmornen Kommodenplatte stand eine Statue der Jungfrau mit dem nackten roten Herzen auf der Brust, grell und widerwärtig anzusehen. Ein Kruzifix lag daneben, und der verrenkte, sich windende Leib Christi war in wirklichkeitsgetreuen Farben gehalten, bis hin zu dem dunke l roten Blut, das an den Nägeln in seinen Händen hervorquoll. Kerzen brannten in roten Gläsern neben einem welken Pal m strunk.
    »Nimmt sie Notiz von diesen religiösen Dingen?« fragte der Doktor.
    »Zum Teufel, nein«, sagte Miss Nancy. Kampfergeruch kam in Wellen aus den Kommodenschubladen, während sie den I n halt zurechtschob. Rosenkränze hingen an geprägten Me s singpalmen, selbst in den verblichenen Satinschirmen. Es sah so aus, als sei hier seit Jahrzehnten nichts mehr geändert worden. Die gelben Spitzengardinen waren steif und stelle n weise verrottet. Wo sie das Sonnenlicht fingen, schienen sie es festzuhalten und warfen dann ihr
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