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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde
Autoren: Anne Rice
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Viola hob sie aus dem Stuhl und schob sie geduldig Schritt für Schritt voran.
    »Ich bin jetzt sieben Jahre bei ihr, Doktor; sie ist mein liebes Mädchen.«
    Sieben Jahre in diesem Zustand. Kein Wunder, daß die Füße der Frau begonnen hatten, an den Knöcheln einwärts zukni c ken und daß ihre Arme sich fester an die Brust zogen, wenn die Schwester sie nicht wieder in den Schoß hinunter drückte.
    Viola pflegte mit ihr in dem langgestreckten großen Salon die Runde zu machen, vorbei an der Harfe und dem staubbedec k ten Bösendorfer-Flügel. Weiter in den langen, weiten Speis e raum mit seinen verblichenen Wandgemälden von moosbehangenen Eichen und bebauten Feldern.
    Füße in Pantoffeln schlurften über den verschlissenen Aubu s son-Teppich. Die Frau war einundvierzig Jahre alt, aber sie sah zugleich jung und uralt aus – ein gebeugtes, bleiches Kind, unberührt von erwachsener Sorge oder Leidenschaft. Deirdre, hattest du je einen Geliebten? Hast du je in diesem Salon getanzt?
    In den Regalen der Bibliothek standen ledergebundene Jou r nale, auf deren Rücken in verblichener, violetter Tinte alte D a ten verzeichnet waren: 1756, 1757, 1758… Und auf jedem stand in goldenen Lettern der Familienname: Mayfair.
    Mayfair, eine uralte Kolonial-Familie. An den Wänden hingen alte Gemälde, die Männer und Frauen im Gewand des ach t zehnten Jahrhunderts zeigten, aber auch Daguerreotypien, Heliographien und Photographien. Eine vergilbte Karte von Saint Domingue – ob sie es wohl immer noch so nannten? – hing in einem schmutzigen Rahmen im Gang. Und das nac h gedunkelte Gemälde einer großen Pflanzervilla.
    Und was für Juwelen seine Patientin trug. Erbstücke sicher, mit diesen antiken Fassungen. Warum hängten sie solche Juwelen an eine Frau, die seit über sieben Jahren kein Wort mehr gesprochen und sich aus eigenem Antrieb nicht mehr bewegt hatte?
    Die Schwester sagte, sie nehme ihr die Kette mit dem Sm a ragdanhänger niemals ab, nicht einmal, wenn sie Miss Deirdre bade.
    »Ich will Ihnen ein kleines Geheimnis verraten, Doktor: Rühren Sie die niemals an!«
    »Und warum nicht?« hatte er fragen wollen. Aber er hatte den Mund gehalten. Voller Unbehagen hatte er zugesehen, wie die Schwester der Patientin die Rubinohrringe angelegt, den Di a mantring an den Finger gesteckt hatte.
    Als ob man einen Leichnam ankleidet, dachte er. Und da draußen winden die Eichen ihre dunklen Äste langsam auf die staubigen Fensterscheiben zu. Und der Garten schimmert in der dumpfen Hitze.
    »Und schauen Sie ihr Haar an«, sagte die Schwester liebevoll. »Haben Sie jemals so schönes Haar gesehen?«
    Es war schwarz, jawohl, und dicht und lockig und lang. Die Schwester bürstete es mit Vorliebe und sah zu, wie die Locken sich wieder aufrollten, wenn die Haarbürste sie freigab. Und die Augen der Patientin, blickten sie auch lustlos und starr, waren klar und blau. Aber hin und wieder fiel Speichel in e i nem dünnen Silberfaden aus ihrem Mundwinkel und machte einen dunklen Fleck auf das weiße Nachthemd über ihrem Busen.
    »Es ist ein Wunder, daß noch niemand versucht hat, ihr diese Sachen zu stehlen«, sagte er halb zu sich selbst. »Sie ist so hilflos.«
    Die Schwester hatte ihn mit überlegenem, wissendem Lächeln angesehen. »Niemand, der je in diesem Haus gearbeitet hat, würde das versuchen.«
    »Aber sie sitzt stundenlang allein draußen auf der Veranda. Man kann sie von der Straße aus sehen.«
    Lachen.
    »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen, Doktor. Niemand hier ist töricht genug, durch dieses Tor zu kommen. Der alte Ronnie mäht den Rasen, aber das tut er, weil er es immer g e tan hat, seit dreißig Jahren schon, und der alte Ronnie ist auch nicht ganz richtig im Kopf.«
    »Trotzdem…« Aber er hatte nicht weiter geredet. Wie kam er dazu, so vor dieser schweigenden Frau zu sprechen, die nur hin und wieder die Augen ein wenig bewegte, deren Hände da lagen, wo die Schwester sie hingelegt hatte, deren Füße kraf t los auf dem blanken Boden standen. Wie leicht vergaß man sich, vergaß man, dieses tragische Geschöpf zu achten. Ni e mand wußte ja, was die Frau verstand.
    »Sie könnten sie vielleicht gelegentlich in die Sonne setzen«, sagte der Doktor. »Sie ist so blaß.«
    Aber er wußte, daß der Garten nicht in Frage kam, selbst weit entfernt vom stinkenden Pool. Dornige Bougainvilleen wuche r ten in Büscheln unter dem wilden Kirschlorbeer hervor. Fette kleine Cherubine, streifig von Schleim, spähten wie Gespe n
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